«Eine ist be­son­ders gut»

Interview mit Christian Menn

Der Schweizer Bauingenieur Christian Menn ist Mitte Juli im Alter von 91 Jahren gestorben. In seinem letzten Interview mit TEC21 erzählt er, was gute Brücken ausmacht. Das Interview fand im Herbst 2017 statt.

Date de publication
18-10-2017
Revision
24-07-2018

TEC21: Herr Menn, Sie haben im März Ihren 90. Geburtstag gefeiert. Wir gratulieren Ihnen ganz herzlich!
Christian Menn: Jetzt habe ich mich entschlossen, einen Garten anzulegen. Aber ich habe auch viele Enttäuschungen erlebt. Ich habe einige Fehler gemacht. Man hätte vieles ohne grossen Mehraufwand so machen können, dass es sehr gut funktioniert hätte.

TEC21: Was zeichnet denn eine gute Brücke aus?
Christian Menn: Ich sehe es im Brückenbau so: Grundsätzlich sollte ein effizientes, schlankes, transparentes, elegantes Tragwerk angestrebt werden. Die neuen Brücken wurden und werden heute in der Regel sehr sorgfältig projektiert und ausgeführt. Frühere Mängel wurden im Hinblick auf und aufgrund schlechter Erfahrungen vermieden. Eine wirklich gute Brücke besteht aus einem guten Konzept – praktisch ohne Berechnungen. Man stellt sich die Fragen, was sich in die Umgebung einfügt und wie man eine harmonische Ge­staltung erreicht. Dann folgt ein sorgfältiges Vorprojekt mit überschlägigen Berechnungen, die erforderlich sind, um die Machbarkeit zu garantieren und die Kosten zu schätzen. Im Anschluss folgen die Nachweise bei heiklen Stellen mit sorgfältigen Berechnungen oder Versuchen.

TEC21: So war es auch bei der Schräg­kabelbrücke über den Charles River in Boston?
Christian Menn: Ja. Sie ist das Herzstück des milliardenschweren Stadt­autobahnprojekts «The Big Dig». Man holte mich, um die Auseinandersetzungen zwischen der Stadt und den Projektverfassern zu schlichten. Ich war technischer Berater und Experte. Nach vielen fragwürdigen Varianten beschloss ich, selber einen Entwurf zu präsentieren. Ich liess in Chur ein Modell von meinem Entwurf herstellen. Mittlerweile hatte ich ja schon viele Gespräche betreffend der Brücke in Boston geführt und hatte einen breite Übersicht über die Situation. Ich flog zwei Monate später mit dem Modell nach Amerika zurück. Alle waren begeistert von meinem Vorschlag.
Die Spannweite der Schrägkabelbrücke über den Charles River in Boston ist nicht sehr gross. Aber die Brücke ist ausserordentlich breit. Sie weist zehn Spuren auf. Bei diesem ungewöhnlichen Breite-Länge-Verhältnis der Brücke trotzdem ausgewogene Propor­tionen zu erhalten war das Problem und die Herausforderung. Es sind wichtige konzeptionelle Überlegungen, die hinter diesem Entwurf stecken.

TEC21: Kommt Ihnen denn auch ein gutes Beispiel hier in der Schweiz in den Sinn?
Christian Menn: Kürzlich fuhr ich von Chur an den Thunersee und hatte den Eindruck, dass unser Autobahnnetz mit seinen vielen Kunstbauten ausgezeichnet ist. Nicht alle befriedigen aber. Eine ist besonders gut. Ich habe noch selten eine so schöne Balkenbrücke gesehen. Die Proportionen und der Gesamt­eindruck sind überzeugend. Sie fügt sich gut in die Umgebung ein: die Aarebrücke in Thun von Werner Brändli von Bänziger Partner.
Wissen Sie, wenn man ein gutes Konzept hat, dann muss man gar nicht mehr lang nach der Konstruktion suchen. Konstruk­tion und Konzeption verbinden sich. Sie wollen das Gleiche.

TEC21: Die Aarebrücke in Thun wurde im Wettbewerbsverfahren vergeben. Welchen Aufgaben muss sich eine Jury stellen können, um ein gutes Brückenprojekt zu wählen? Welche Zusammensetzung der Jury ist dafür notwendig?
Christian Menn: Am besten hält man sich bei der Wettbewerbsorganisation an Vitruv. Erstens Firmitas – Trag­fähigkeit. Es braucht einen im Brückenbau erfahrenen Ingenieur, der nicht nur eine, sondern mehrere Brücken selbstständig projektiert hat. Zweitens Utilitas – Nutzen. Es braucht einen erfahrenen Planer, der den Nutzen und die Gesamtkosten des Projekts abschätzen kann. Eventuell kann man die Linienführung auch ohne eine Brücke ausbilden? Und drittens Venustas – Anmut/Schönheit. Es braucht einen Gestalter, der etwas von Einfügen des vorgese­henen Bauwerks in sein Umfeld, von Harmonie und einheitlicher Konstruktion versteht. Alles andere ist «technische» Politik – bla, bla, bla.

TEC21: Ist Schönheit denn kein subjektiver Begriff?
Christian Menn: Nein, das ist nicht so! Ich bin ganz und gar nicht dieser Auffassung. Proportionen müssen stimmen, wenn es schön sein soll. Ich habe diesbezüglich auch einige Fehler gemacht. Wenn Sie eine Stütze im Rundquerschnitt erstellen und darauf einen Träger im Rechteckquerschnitt lagern, dann passt das offensichtlich nicht. Wenn das Konzept falsch ist, wird alles falsch.

TEC21: Gibt es solche fraglichen Umsetzungen hier in der Schweiz?
Christian Menn: Das finden Sie am besten selber heraus, indem Sie auf die Konzeption achten. Und auf umständliche Bauausführungen oder auch Stützen, die Normalkraft auf den Bogen bringen und zusätzlich aber mit einer Komponente auch noch zum Hang herausziehen. Das ist Unsinn. Man darf ein Endwiderlager zum Beispiel nur dann höher als die Flusspfeiler fundieren, wenn der Flussdamm entsprechend befestigt ist. Ich verstehe auch nicht, dass man einen Strich auf einem Plan ziehen kann und damit die Linienführung einer Strasse bestimmt. Dass keine Abweichungen in der Linienführung zugelassen werden, ist unsinnig. So ist es heute leider in vielen Brückenwettbewerben der Fall. Man muss doch einen Raum vorgeben, um für jeden Brückentyp die optimale Linie festzulegen! Auch das gehört zu einem guten Brückenkonzept.

TEC21: Sie bildeten selber als Professor an der ETH zwei, drei Generationen von Bauingenieuren aus. Hatten Sie es nicht in der Hand, gute Ingenieure auszubilden?
Christian Menn: Ich gab früher auch Vor­lesungen ohne Skripte. Das war damals so üblich. Es ist immer interessant, was sich die Studierenden aus den Vorlesungen heraus­picken. Sie nehmen natürlich einzelne Begriffe heraus, die sie brauchen, und es sind nicht immer diejenigen, die ich betont habe. Aber vielleicht sollte man manchmal Blödsinn zeigen, damit man demonstrieren kann, wie man es eben gerade nicht machen soll. Oder soll man die Augen zumachen? Oder doch nur das Gute präsentieren? Ich weiss es nicht.
 

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