«Schwei­zer In­ge­nieur­bau­kunst» – mehr als eine Ver­nis­sage

Wollen wir, wie der Bundesrat in der Agenda 2030 festhält, die UNO-Ziele für eine nachhaltige Entwicklung erreichen? Dann brauchen wir den Beitrag aller Ingenieurinnen und Ingenieure. Der 4. Band von «Schweizer Ingenieurbaukunst» widmet sich daher dem Thema Nachhaltigkeit am Bau. Am 8. November 2022 fand die Vernissage dieses Jahrbuchs von espazium – Der Verlag für Baukultur im Zentrum Architektur Zürich ZAZ statt.

Date de publication
22-11-2022

Hinterfragen Bauingenieure kreativ die ihnen gestellten Aufgaben? Mit dieser Frage eröffnete Judit Solt, Chefredaktorin TEC21 das Podium der Vernissage des 4. Band von «Schweizer Ingenieurbaukunst». Mit auf dem Podium im ZAZ sassen Cristina Zanini, Bauingenieurin und Stadträtin von Lugano; Pirmin Jung, Bauingenieur der Pirmin Jung AG; Dr. Andrea Bassetti, Bauingenieur und Mitglied der Geschäftsleitung bei Dr. Lüchinger Meyer und Tivadar Puskas Bauingenieur und Partner bei Schnetzer Puskas Ingenieure.

Die Podiumsteilnehmenden stammen aus verschiedenen Tätigkeitsbereichen, beurteilen aber alle den Einfluss des Ingenieurwesens in der Diskussion um die Erreichung der UNO-Ziele als wesentlich. Einig sind sich alle Beteiligten, dass der Stellenwert der Ingenieure bereits in der Grundausbildung der Schule gefördert werden muss und dabei auch der kreative Aspekt des Berufsbilds in den Vordergrund treten sollte. Denn Bauingenieurinnen und -ingenieure gehen kreativ an Problem- und Aufgabenstellungen heran – kreativ im Sinn von einfallsreich, schöpferisch und erfinderisch.

Deswegen können auch die Lösungsansätze für die aktuelle Herausforderung an Klima- und Nachhaltigkeitsfragen unterschiedlich ausfallen – was wiederum eine wichtige Inspirationsquelle für komplexe Fragestellungen ist. Umso wichtiger sei neben der schulischen und akademischen Ausbildung, dass sich Architekten und Ingenieurinnen bei der Projektierung schon frühzeitig miteinander austauschen. Das steigere das gemeinsame Verständnis der unterschiedlichen Herangehensweisen und Lösungsansätze, so können gänzlich neue Ideen entstehen. Denn die Veränderung in der Bauwirtschaft finde im Gedankenaustausch der Planenden statt.

Wie schaffen wir den Wandel?

Normen und Gesetze regeln den Baualltag. Hier wird zuerst an den Stellschrauben für eine nachhaltige Zukunft gedreht, mit denen zum Beispiel die UNO-Ziele der Agenda 2030 Erfüllung finden sollen. Darin liegt allerdings aber auch die Krux im Detail. Denn Normen und Gesetze sind oft der Stolperstein, über den man bei der Planung fällt, möchte man ein Projekt schlanker, also bspw. mit weniger grauer Energie planen. Insbesondere Erdbebensicherheit und Brandschutz nannten die Podiumsteilnehmenden als Herausforderung beim Bauen im Bestand oder beim Bauen mit wiederverwendeten Bauteilen.

Die aktuellen Anforderungen seien oft so hoch, dass gerade die erhaltenswerte Bausubstanz diese nicht mehr erfüllen kann. In solchen Fällen seien kreative Konzepte von Ingenieurinnen und Ingenieuren gefragt – ein ungewöhnlicher Blickwinkel beispielsweise, der die unterschiedlichen Komponenten aufeinander abstimmt und den Bau mit möglichst wenigen Eingriffen wieder fit für die nächste Lebensphase werden lässt. Hier setzt auch Andrea Bassetti an: Er erklärte, dass Überlegungen bezüglich der Tragstruktur eines Bauwerks entscheidend sein können. Sie beeinflussen den Ausstoss an CO2 markant sowohl bei Neubauten als auch beim Bauen im Bestand. Zudem wirke die Art und Weise, wie eine Tragstruktur konstruiert ist, sich auch bei einem allfälligen Weitergebrauch aus, nachdem der Bau für seine ursprüngliche Nutzung obsolet geworden ist.

Eine robuste Tragstruktur ist somit ein Kernpunkt für ein nachhaltig geplantes Bauwerk. Als Beispiel nannte Bassetti das erneuerte Felix Platter-Spital in Basel. Dank dem robusten und noch immer gut erhaltenen Tragwerk, dem flexibel nutzbaren Raum innerhalb der bestehenden Tragkonstruktion und dem für den Bau passenden Umnutzungskonzept konnten mehr als 8000 Kubikmeter Beton erhalten und weitergenutzt werden. Günstig war hier vor allem der Skelettbau, der generell flexibel ist und damit ressourcenschonender ist als zum Beispiel eine Tragstruktur aus Scheiben. Bereits im Wettbewerb waren Dr. Lüchinger + Meyer in die Entwicklung des Umbaukonzepts involviert gewesen. Andrea Bassetti betonte, dass beim Bestand die frühzeitige Zusammenarbeit zwischen Architektur und Bauingenieurwesen noch wichtiger sei als beim Neubau, um allenfalls brachliegendes Potenzial zu erkennen und ausschöpfen zu können.

Neben optimierten Betonkonstruktionen wie im Felix Platter-Spital können auch alternative  Materialien eine Verbesserung bei der Nachhaltigkeit eines Projekts ausmachen. Momentan ist der Holzbau besonders beliebt. Aber auch der Stahlbau, der zwar in der Produktion der einzelnen Elemente CO2-intensiver ist, biete grosses Potenzial bezüglich Wiederverwendbarkeit – natürlich geschraubt und nicht geschweisst,  systemgetrennt und in einem Guss, damit sich alle Einzelteile effizient voneinander trennen lassen. Nur dann sei auch beim Neubau oder bei Re-Use-Projekten eine spätere, abfallfreie Weiternutzung der Gebäude gewährleistet.

Doch während Bauten inklusive deren Tragwerk über hundert Jahre bestehen bleiben können, ist die Gebäudetechnik oft schon nach 20 Jahren veraltet. In hoch technisierten Nutzungen, wie im Spitalbaugeht dieser Prozess besonders schnell. Alles, was bei der Erneuerung der Technik dann nicht in der Tragkonstruktion verwoben ist, lässt sich einfach austauschen, ohne grosse Eingriffe in der Bausubstanz vornehmen zu müssen.

Pirmin Jung betont, dass hier auch die Bauherrschaften in die Pflicht zu nehmen seien. Nur wenn die Bestellung schon in der Ausschreibung richtig definiert sei, können Überraschungen vermieden werden. Hier sei wiederum die Planerschaft gefragt, die Bauherrschaften dabei zu unterstützen, ihre Wünsche und Bedürfnisse erkennen und formulieren zu können. Im Gegenzug sei auch die Politik gefordert, wenn denn Re-Use und Bestand gefördert werden sollen. Denn beim Bauen für Re-Use oder im Bestand fallen oft höhere planerische Leistungen an, die nicht oder nur schwer über die Honorarordnung wiedergegeben sind.

Umdenken auch bei den Honoraren

Denn: Je weniger tatsächlich gebaut wird, desto kleiner fällt das Honorar aus. Das liegt unter anderem auch daran, dass die Honorarordnungen für den Neubau ausgelegt sind und nicht flexibel auf die Bedürfnisse beim Bauen im Bestand oder mit Re-Use reagieren können. Dafür sei eine Anpassung nötig, was wiederum eine Präsenz von Architekten und Bauingenieurinnen in der Politik unabdingbar macht.

Bauen ist politisch, früher wie heute. Wichtig ist, dass das Know-how der Fachpersonen darin widergespiegelt wird. Und dass die Fachpersonen die Geduld aufbringen, sich schrittweise an die von Laien nicht immer sofort nachvollziehbaren Lösungen anzunähern. Das Buch «Schweizer Ingenieurbaukunst» zeigt solcher kreativen, bemerkenswerten und durchaus auch mutigen Lösungsansätze und trägt insofern dazu bei, ingenieurspezifische Ansätze allen Interessierten zu veranschaulichen. Denn ohne die Ingenieurinnen und Ingenieure werden wir die angestrebten Ziele nicht erreichen können.

Buch bestellen:
Schweizer Ingenieurbaukunst 2021/2022
 – Band 4. 128 Seiten, dreisprachig deutsch, französisch, italienisch, ISBN 978-3-9525458-5-0, 49 Fr.

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