Danke, Auto!

Mit dem Auto kamen zahlreiche Bautypen auf, denen meist kein guter Ruf vorauseilt: Lange Asphaltbänder versprechen Ödnis, Tiefgaragen Horror. Doch haben sich hier keineswegs nur negative Imaginationsräume eröffnet. Das zeigt vor allem das Kino. Eine Hommage in zehn Filmsequenzen.

Date de publication
10-02-2023

Krieger ist ein moderner Odysseus. Den müden Helden mit dem vielsagenden Namen aus Christian Schochers Roadmovie von 1981 führen zahllose Irrfahrten als Kosmetikvertreter durch die gesamte Schweiz. Und wie bei Homer wartet entlang des Wegs eine Reihe bizarrer Geschichten und Gestalten. Die können auch bauliche Form annehmen: Das Brückenrestaurant der Raststätte Pratteln bei Basel, das die A2 und A3 überspannt, nimmt die Kamera aus subjektiver Perspektive durch die Windschutzscheibe in den Blick – und etwas Magisches passiert. Als das Bauwerk Meter für Meter näher kommt, entpuppt es sich als eine Art schlafender Riese. Die gewaltige Brücke mutiert zu einem bedrohlichen Torwächter, den Krieger mit seinem Citroën CX passieren muss.

Das grosse ovale Bullauge in der Mitte des Brückenriegels verrät es: Es ist Polyphem, der einäugige Zyklop aus dem antiken Epos, mit dräuend geweiteter Big-Brother-Pupille. Ein elektrisierender Moment, in dem eine klassische literarische Referenz und ein Jahrtausende umspannendes kulturelles Gedächtnis für einen ­Augenblick durch die Windschutzscheibe blitzen – dann hat Kriegers Auto das Ungetüm auch schon hinter sich gelassen.

Pannen und Überholmanöver im filmischen Erzählen

Das ist die Zauberkraft des Films. In Sekundenbruchteilen lässt er in unseren Köpfen epische Vorstellungswelten entstehen. 42 Millionen Fahrzeuge fahren heute jährlich unter dem von Casoni & Casoni entworfenen Brückenrestaurant hindurch, doch das Roadmovie vermag diesem vermeintlichen Unort Poesie zu entlocken. Architektur wird auf der Leinwand lebendig, Räume werden vielschichtig lesbar. Bauten für das Auto eignen sich dafür trotz ihren dystopischen Schattierungen in einmaliger Weise. Denn das dynamische Miteinander von Kamera, Mensch, Automobil und der dazugehörigen gebauten Infrastruktur lässt sich seit je perfekt mit der narrativen Logik des Kinos verknüpfen.

Filmisches Erzählen ist auf die Entwicklung von Figuren fixiert: auf Reifeprozesse, Aufstiege, Abstürze und Selbst­findungen, kurz auf Lebensreisen aller Art. Die wiederum Rast- und Tankstopps, Pannen und Überholmanöver im übertragenen Sinn kennzeichnen. So sind es in «Reisender Krieger» vor allem Autobahnen, Tunnel und Parkplätze, die den schlafwandlerischen Routinen des Handlungs­reisenden Schubkraft und Form geben. In Mels führt Krieger ein wütendes Telefonat mit seinem Arbeitgeber. Während er seinem Unmut am Münzfernsprecher freien Lauf lässt, sehen die Zuschauer im Hintergrund das leere Parkdeck des Einkaufszentrums «Pizolpark», wo allein sein Citroën geduldig auf ihn wartet. «Ich komme vorbei – und dann wird abgerechnet», ruft Krieger erregt in den Hörer. Ein einsamer suburbaner Cowboy im zerknitterten Trenchcoat, der zum grossen Showdown rüstet, sein Pferd draussen in der grauen Betonwüste, bereit für den ­finalen Ritt. Der freilich so final nicht sein wird – die Irrfahrten gehen weiter, über die Landstrassen und Autobahnen von Basel bis Graubünden.

Die so oft negative Kon­notation der Leere automobiler Infrastrukturbauten aus Asphalt und Beton fordert der Film in doppelter Weise heraus: Er verleiht einer vermeintlich banalen Architektur durch ein darauf projiziertes Narrativ eine neue Bedeutungsebene, und als filmischer Kommentar verbindet er Roadmovie und Western in subtilem Humor, indem er die Wüstenräume des amerikanischen Südwestens in den wüsten Räumen der Schweizer Stras­senlandschaften wiederauferstehen lässt.

Wahrheiten im Dunkel der Tiefgarage

Am anderen Ende der Skala der Auto-Architekturen liegen Parkhäuser und Tiefgaragen: Nicht gekennzeichnet von der Weite der das ganze Genre Roadmovie inspirierenden Landstrasse, sondern begrenzt von Betonpfeilern und Dunkelheit. Es muss daran liegen, dass dies im Kino oft Orte sind, an denen sich angestaute Kräfte Bahn brechen. In «All the President’s Men» (1976) trifft Bob Woodward, ein von Robert Redford gespielter Reporter der «Washington Post», seinen Informanten «Deep Throat» in einer Parkgarage, um Hinweise zur Aufdeckung der Watergate-­Affäre zu erhalten. Es ist dort so dunkel, dass man die Gesichter der beiden kaum sieht. Gerade das macht die Symbolik der Szene und ihres Settings so offensichtlich: Woodwards Recherchen führen in die finstersten Abgründe eines Landes, dem es nicht nur an Parkhausbeleuchtung, sondern auch an Integrität seiner Führungselite mangelt.

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Als nicht weniger existenziell entpuppt sich die private Wiederbegegnung von Bernard (Gérard Depardieu) und Mathilde (Fanny Ardant) in einem banalen Betonparkhaus eines Supermarkts in «La femme d’à côté» (1981). Die beiden waren einst ein Paar, nun sind sie neu verheiratet. Aber die alten Gefühle sind noch da. Nachdem er ihr die Einkaufstüten in den Kofferraum gepackt hat, kommt es kurz vor Abfahrt zum leidenschaftlichen Kuss. Weit entfernt davon, ein Ort des Grauens zu sein, erlauben das Dunkel der Garage und der enge Raum zwischen dem Auto und der geöffneten Fahrertür hier eine Intimität, die anderswo fehlt, und die Anonymität der unspezifischen Architektur eröffnet unerwartete Freiheiten.

Treffpunkt Tankstelle

Am Ende von «Les Parapluies de Cherbourg» (1964) ist es hingegen eine Tankstelle, die zwei ehemals Liebende wieder zusammenführt, unter ähnlich tragischen Vorzeichen. Der kriegsgeschädigte Guy (Nino Castelnuovo) hat eine moderne Esso-Tankstelle übernommen. Während seine Frau Weihnachtseinkäufe macht, fährt Guys einstiger Schwarm Geneviève (Catherine Deneuve) mit der gemeinsamen kleinen Tochter nichtsahnend zum Tanken vor. Der Wagen schneit langsam ein, und auch über das Gespräch der beiden im Kassenhäuschen legt sich ein Schleier der Gedämpftheit. Zwar ist die immer noch ­tiefe Verbindung greifbar, doch gibt es keine Chance, jene Fragen zu stellen, die das Auto an der Zapfsäule andeutet: Wer hat hier noch wie viel Energie im Tank? Wohin wollen die beiden steuern?

Der modernistisch glatte Verkaufsraum gibt hierauf eine eigene Antwort: Hinter Geneviève ist im Regal ein riesiges Sortiment an Motorenöl zu sehen. Auch die Lebensströme von Guy und Geneviève fliessen inzwischen mit so unterschiedlicher Viskosität, dass sie gar nicht mehr kompatibel wären, selbst wenn sie es noch einmal miteinander versuchten. Aber an der Tankstelle geht es nicht allein um Liebesbeziehungen, sie eignet sich im Film auch als Zentrifuge, um Narrative zu beschleunigen.

Im von Friedrich Dürrenmatt geschriebenen Kriminaldrama «Es geschah am hellichten Tag» (1958) ist die SOCAL-Tankstelle an der Landstrasse zwischen Zürich und Chur, die der Polizeikommissar Matthäi (Heinz Rühmann) pachtet, zunächst ein friedlicher Ort der Begegnung. Der Dorfpfarrer kommt – mit dem Velo – extra auf einen Plausch vorbei. «Kann ich Ihnen helfen?», fragt der Pastor. «Nein, das kann niemand», raunt Matthäi und fügt hinzu: «Ich warte auf etwas ...» Da hat die Tankstelle einen Moment lang etwas von einem Beckett’schen Bühnenraum, in dem – wie in «Les Parapluies de Cherbourg» – aus heiterem Himmel grosse Fragen verhandelt werden. Dahinter steckt hier Strategie: Der Autoservice soll jenen Serienmörder mit Bündner Nummernschild anlocken, den Matthäi verbissen jagt. So wird die Tankstelle zu einer Schwelle, die gegensätzliche Welten verbindet: Die Sphäre von Recht und Ordnung soll hier mit dem Schattenreich des Verbrechens in Berührung kommen.

Gesellschaftsporträts auf der Waschstrasse

Da waren die Tage, die Rühmann als singender Tankstellenbetreiber in «Die Drei von der Tankstelle» (1930) verbrachte, doch wesentlich heiterer. Die Autoinfrastruktur erweist sich dort als Paralleluniversum abseits städtischer Zusammenhänge und gesellschaftlicher Kontrolle, dessen Durchlauf so hochtourig ist, dass man ruhig mal die eine oder andere Regel ausser Kraft setzen kann – es wird schon keiner merken.

Das amerikanische Pendant dazu heisst «Dee-Luxe Car Wash» und ist der Handlungsort der herrlich verrückten US-Komödie «Car Wash» (1976). Die Autos der Kunden werden hier von der – überwiegend afro­amerikanischen – Belegschaft zwar traditionell per Hand eingeschäumt, aber das darf nicht darüber hinweg­täuschen, dass durch diese Waschstrasse ein extrem progressiver Wind weht. Ex-Häftlinge, radikale Revolutionäre, Drag Queens und Hipster bilden hier eine grosse Multikulti-Familie, in der zwar derbe Spässe auf Kosten anderer gemacht werden, wo das Herz aber doch am rechten Fleck pocht. Die Macken der Kundschaft werden gelassen toleriert, etwa die einer hysterischen Frau aus Beverly Hills, deren kleiner Sohn sich aus dem offenen Wagenfenster übergibt («Ob das den Lack beschädigt? Konntest du dich nicht etwas mehr hinausbeugen?»).

«Car Wash» feiert die Spleens der Spezies Mensch ebenso wie die Ästhetik der amerikanischen Wagen der 1970er-Jahre – und jene der «roadside architecture»: aufsehenerregende Konstruktionen mit Aufmerksamkeit erhaschenden Schriftzügen, die Denise Scott Brown und Robert Venturi zeitgleich für die Architektur­t­heorie entdeckten.

Zu Hause an der Autobahn

«Car Wash» mag klamaukig erscheinen, doch zeigt der Film auch, dass automobilspezifische Topografien im Film keineswegs gesichtslose Nicht-Orte ohne soziale Tiefe oder historische Verwurzelung im Sinn des französischen Anthropologen Marc Augé sind. Auch zunächst allein funktionale Bauten für das Auto können als Schauplatz der Dramen menschlichen Daseins eine andere Bedeutungstiefe bekommen.

In Ursula Meiers Tragikomödie «Home» (2008) hat eine Familie sich in einem Häuschen direkt an einem ungenutzten Autobahnabschnitt eingerichtet. Die leere Fahrbahn dient als Rollhockeyfeld; auf der Leitplanke lüften hübsch aufgereiht die Schuhe. Als die Strecke dann doch für den Verkehr freigegeben wird, stellt das das Durchhaltevermögen der Familie auf eine harte Probe. In dem Masse, in dem die Alltagshürden höher werden – Wie kommen die Kinder nun über die Strasse zur Schulbushaltestelle? –, nehmen auch die familieninternen Spannungen zu. Tochter Marion misst mit manischer Akribie das Fahrzeugaufkommen und entwickelt beunruhigende Feinstaubszenarien; die Mutter (Isa­belle Huppert) verfällt zunehmend in Apathie und Paranoia.

Am Ende mauert der Vater alle Fenster und Türen zu und dämmt die Wände. Das bringt göttliche Stille, aber die Luft wird schnell knapp. Das Experiment, in friedlicher Koexistenz mit einer Autobahn zu leben, ist gescheitert. Aber es hat viele inspirierte Momente hervorgebracht: Matratzenpartys, Ohrstöpseltests, selbst gebastelte Schutzkleidung aus Taucherbrillen und Küchenhandschuhen. Sollte das Automobil eines Tages zusammen mit seinen negativen Nebenwirkungen verschwunden sein, wer wird die Menschen dann noch zum Kampf für eine bessere Umwelt anspornen?

Das Auto, ein Raum

Dass es aber gar nicht um einen darwinistischen Überlebenskampf zwischen Mensch und Auto gehen muss, sondern auch Modelle der Symbiose denkbar sind, zeigt «Drive My Car» (2021), ein poetisches Roadmovie, das im Infrastrukturgeflecht von Hiroshima an­ge­siedelt ist. Ein trauernder Bühnenregisseur wird als Artist in Residence von einer jungen, problembela­denen Frau täglich in seinem eigenen Saab zu den Theaterproben chauffiert.

Die intimen, vertrauensvollen Gespräche, die sich während der Fahrten entwickeln, weisen für beide den Weg in Richtung Heilung – und zeigen, dass das Auto auch für den postmodernen Menschen im Prinzip unverzichtbar ist. Eingehängt in ein dezentes Gerüst aus Parkgaragen, Autolifts, Stadtautobahnen und Küstenstrassen kann es die Menschen in Raum und Zeit zusammenbringen. Der Innenraum des Wagens spielt in diesem Roadmovie eine der Hauptrollen. Diese Wendung nach innen und die Tatsache, dass es sich trotz dem aktuellen Datum und Setting des Films hier um das stilvolle Interieur eines alten Saab 900 mit ana­logem Kassettendeck handelt, entlarvt den Film auch als liebevoll-nostalgische Retrospektive auf ein zu Ende gehendes Zeitalter der Automobilität.


Die genannten Filme
(die Szenen finden Sie auch in der Bildgalerie)

  1. Reisender Krieger (CH 1981), Buch und Regie: Christian Schocher
  2. All the President’s Men (USA 1976), Regie: Alan J. Pakula
  3. La femme d’à côté (F 1981), Regie: François Truffaut
  4. Les Parapluies de Cherbourg (F/D 1964), Regie: Jacques Demy
  5. Es geschah am hellichten Tag (CH/D/SP 1958), Regie: Ladislao Vajda
  6. Die Drei von der Tankstelle (D 1930), Regie: Wilhelm Thiele
  7. Car Wash (USA 1976), Regie: Michael Schultz
  8. Home (CH/F/B 2008), Regie: Ursula Meier
  9. Drive My Car (J 2021), Regie: Ryusuke Hamaguchi

Beiträge zu Architektur im Film versammelt unser Dossier. Das Filmglossar aus TEC21 19/2008 gibt es hier zum Download.

 

Weitere Beiträge zum Thema «Architektur und Auto» finden Sie in unserem gleichnamigen Dossier.

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