«Es geht nicht um Zen­sur»

Wir treffen den Präsidenten der Biennale in Venedig, Roberto Cicutto, um eine erste Bilanz der laufenden Architekturausstellung zu ziehen und sprechen mit ihm über deren Schlüsselrolle sowie die vorgenommenen Änderungen an seiner Wirtschafts-, Nachhaltigkeits- und Sozialpolitik.

Date de publication
10-10-2023
Yony Santos
Head of education espazium.ch | Architekt | Redaktor

Roberto Cicutto wurde 1948 in Venedig geboren. Später zog es ihn nach Rom, wo er eine Karriere im Filmgeschäft startete. Im Jahre 1978 gründete er die Produktionsfirma Aura Film und 1984 Mikado Film. Er produzierte und vertrieb Filme der bedeutendsten Regisseurinnen und Regisseure aus dem In- und Ausland. Cicutto leitete von 2009 bis 2020 das Istituto Luce Cinecittà, bevor er am 29. Februar 2020 Präsident der Biennale in Venedig wurde.


Mit der Kuratorenauswahl wird eine wichtige Botschaft vermittelt. Was waren Ihre Beweggründe für die Wahl von Lesley Lokko für die Architekturbiennale 2023 und Adriano Pedrosa für die Kunstbiennale 2024?

Ich suchte nach Persönlichkeiten, die unsere westliche Welt von einer höheren Warte aus betrachten. Dies nicht etwa um die afrikanische und südamerikanische Kunst und Architektur aufzugreifen, die bereits ausführlich an vergangenen Ausstellungen thematisiert wurde, sondern vielmehr, um eine andere kuratorische Vision aufzuzeigen. Als ehemaliger Filmproduzent interessierte mich das Konzept der sogenannten Gegeneinstellung, das heisst, die Kamera wird so positioniert, dass die entgegengesetzte Perspektive sichtbar wird. Lesley Lokko lernte ich 2021 anlässlich der Architekturbiennale kennen, als sie Mitglied der internationalen Jury war. Ich schätze ihren auf die Kommunikation und Übermittlung der der Architektur zugrunde liegenden Bedeutung fokussierten Ansatz. Adriano Pedrosa hingegen ist der erste aus Südamerika stammende Kurator an der Kunstbiennale – eine in der 130-jährigen Geschichte der Biennale nicht ganz unbedeutende Tatsache.


Beim Besuch der diesjährigen Biennale wird deutlich, dass der Fokus auf sozialen, ökologischen und politischen Problematiken liegt. Dies in einem solchen Ausmass, dass gemäss einigen Kritikern der architektonische Aspekt zu kurz komme. Man könnte sich somit fragen, ob der gemeinhin bekannte Begriff der Architekturbiennale nicht etwas zu einschränkend für die aktuelle Ausstellung ist.

Die Architektur nimmt die Bedürfnisse der Gesellschaft auf und beeinflusst die Lebensweise der Menschen wie keine andere Disziplin. Lokko nennt in diesem Zusammenhang die Teilnehmenden der Ausstellung «practitioners», weil sie der Auffassung ist, dass in unserer sich rasch hybridisierenden Welt der Begriff des Architekten, der Architektin anders und breitgefächerter interpretiert werden sollte. Die Architektur nutzt in ihrer Darstellung bereits unterschiedliche Medien wie Film, Fotografie, bildende Kunst, Augmented Reality und künstliche Intelligenz. Der Einbezug verschiedener Themenbereiche ist in allen Kunstdisziplinen üblich. Heutzutage kann alles beeinflussen und beeinflussbar sein. Wichtig ist jedoch, dass die Botschaft leicht verständlich vermittelt wird. Lokko ist dies gelungen. Während Hashim Sarkis in «How will we live together?» vor zwei Jahren die Frage des zukünftigen Zusammenlebens für die Besucher aufschlüsselte, ist «The Laboratory of the Future» eine anspruchsvolle Biennale, in der nebst den Beiträgen und Installationen Botschaften vermittelt werden, die Geduld und aufmerksames Zuhören erfordern.


Im Jahr 2022 erhielt die Biennale das Zertifikat für Klimaneutralität. Welche konkreten Schritte wurden dafür in diesem Jahr unternommen und welche Ergebnisse wurden erzielt? Sind weitere Einschränkungen hinsichtlich Kosten, Material, Besucherzahl oder anderen Faktoren geplant?

Das Ziel war, sich nicht lediglich auf das Recyceln der verwendeten Materialien, die korrekte Abfallentsorgung und die Optimierung des Besuchererlebnisses zu beschränken. Solche Massnahmen haben einen geringen Einfluss auf die globale Klimabilanz und dienen eher dazu, das eigene Gewissen zu beruhigen.

Wir benötigen Lösungen. Corona war uns in diesem Sinne eine Lehre. Uns ist bewusst, dass die Mobilität der Besucher den grössten Einfluss auf unseren CO₂-Fussabdruck hat. Die Besuchenden sind aber für die Biennale unverzichtbar. Im Rahmen notwendig gewordener Massnahmen zur Gesundheitsüberwachung haben wir Möglichkeiten untersucht, die Besucherinnen und Besuchrer auf das Thema zu sensibilisieren. Neben den von uns getroffenen Massnahmen zur aktiven Emissionsreduktion kompensieren wir Restemissionen, indem wir Projekte für erneuerbare Energien finanzieren. Wie bereits erwähnt, erhielt die Biennale für alle 2022 durchgeführten Ausstellungen das Zertifikat Klimaneutralität. Die Kuratoren leisteten dabei einen wichtigen Beitrag: Lesley Lokko hat 90 Prozent der Materialien aus der vorgängigen Ausstellung teilweise angepasst und wiederverwendet. Die Dekarbonisierung ist überdies eines der Hauptthemen. Pedrosa entwirft für die nächste Kunstbiennale «Stranieri Ovunque – Foreigners Everywhere» eine in Form und Inhalt gestraffte Ausstellung, und reduziert die Menge der Drucksachen deutlich.


Denken Sie darüber nach, die Biennale in einem neuen Format durchzuführen? Soll die Aufteilung nach Ländern bestehen bleiben oder die Ausstellungsdauer und Vorbereitungszeit überdacht werden?

Objektiv betrachtet gibt es gewisse Grenzen: Das Mandat des vom Kulturministerium gewählten Präsidenten dauert nur vier Jahre. Bei meinem Start 2020 waren die Kuratoren Hashim Sarkis und Cecilia Alemanni bereits durch meinen Vorgänger Paolo Baratta beauftragt worden. Ich habe Lokko und Pedrosa gewählt. Letzterer könnte aber seine Biennale 2024 bereits unter einem neuen Präsidenten kuratieren.

Ein weiterer Punkt ist die Leitung des Kuratoriums. Die Architekturbiennale findet alternierend mit der Kunstbiennale aufgrund ihrer zeitgenössischen Relevanz alle zwei Jahre statt. Bei Film, Tanz, Musik und Theater, die einen erforschenden Charakter haben und folglich zeitintensiver sind, dauert das Mandat der Kuratoren vier Jahre. Die nationalen Beiträge sind eine Besonderheit von Venedigs Biennale, auch aus architektonischer Sicht. Mit der Biennale entstanden auch die Pavillons. Die erste Ausstellung fand 1895 im Palazzo «Pro Arte», in den Giardini di Castello statt. Ich finde es wichtig, an dieser Formel festzuhalten – nicht etwa aus Konservatismus, sondern vielmehr aufgrund ihrer Einzigartigkeit. Darüber hinaus dienen die Pavillons als Instrument zur statistischen und geopolitischen Erfassung der Künstler und Themen im Lauf der Geschichte.


Welchen Bezug hat die Biennale zur Politik? Welche Rolle nimmt die Biennale in der Politik ein?

Die Giardini di Castello sind ein besonderer Ort in Bezug auf die globale Kulturdiplomatie. In diesem Jahr öffnete die Biennale erneut ihre Tore für russische Künstler und unterstützte die Teilnahme von Beiträgen aus der Ukraine. Aufgrund von Krisen, Kriegen, sozialen Konflikten und generationsbedingten Veränderungen war die Ausstellung schon im Laufe des 20. Jahrhunderts einem tiefgreifenden Wandel ausgesetzt. Kuratoren, die die politischen Ansichten ihrer Heimatländer nicht teilten, taten an den Ausstellungen mehrfach ihre abweichende Meinung kund und setzten dadurch politische Debatten in Gang. Die gleichzeitige Teilnahme von Vertretern aus 80 Ländern, bei denen geografische und soziale Unterschiede sowie nationale Widersprüche bestehen, schafft ein aussergewöhnliches Kaleidoskop der Gegenwart. Meine erste Amtshandlung als Präsident bestand darin, die Kuratoren der verschiedenen Sektoren aufzufordern, die Geschichte der Biennale in einem interdisziplinären Dialog Revue passieren zu lassen. Daraus entstand die Idee der Ausstellung «Le Muse Inquiete, la Biennale di fronte alla storia» (Die unruhigen Musen, wenn die Biennale auf Geschichte trifft), die zum Ausgangspunkt für die Verwandlung Venedigs in ein wahrhaftiges Forschungszentrum zeitgenössischer Kunst wurde. Im historischen Archiv für zeitgenössische Kunst (ASAC) werden seit 1895 die Sammlungen der Biennale archiviert und erweitert. Dieses ist dazu bestimmt, sozusagen die siebte Kunstform der Biennale zu werden – ein Labor, in dem Fachleute, Studierende und Kunstliebhabende theoretische Grundlagen untersuchen und kritisch neu interpretieren können.


Warum wurde an einer Biennale, die auf Weltoffenheit ausgelegt ist, der Beitrag des österreichischen Pavillons «Partecipazione» abgelehnt, der zum Ziel hatte, eine Verbindung zwischen der Stadt Venedig und der Ausstellung zu schaffen?

Es fanden Gespräche mit dem Kuratorenteam statt. Der Austausch wird fortgesetzt werden, denn die Thematik rund um das Verhältnis zwischen der Einwohnerschaft und den öffentlichen Einrichtungen ist wichtig und aktuell. Leider gehören die Giardini di Castello nicht der Biennale, sondern der Stadtverwaltung Venedigs. Das gesamte Areal einschliesslich des Arsenales steht unter dem Schutz der Sovrintendenza delle Belle Arti. Es geht dabei nicht um Zensur. Das Herstellen einer örtlich punktuellen Verbindung zwischen der Einwohnerschaft Venedigs und der Ausstellung ist aus logistischen und baurechtlichen Gründen nicht möglich, da wir uns im Inneren historisch bedeutender Strukturen befinden, die eine solche Flexibilität nicht zulassen. Eine Mauer zu durchbrechen oder eine Brücke zu bauen, um der Einwohnerschaft Zugang zum Pavillon zu ermöglichen, ist kein Akt der Demokratisierung. Ansonsten müsste das bei jedem einzelnen Pavillon möglich sein. Ich finde den Slogan «La Biennale ai Veneziani» (die Biennale an die Venezianer) historisch forciert und aufwieglerisch. Die Kuratoren zogen unseren Vorschlag, ihren Beitrag in Räumlichkeiten ausserhalb des Geländes der Biennale auszudehnen, nicht wirklich in Betracht und richteten hingegen ihre Ausstellung geschickt rund um ihre Idee aus.


Welche sind die interessantesten Denkanstösse dieser Architekturbiennale?

Der wahrscheinlich interessanteste Anstoss ist ganz einfach der, die Geduld, die Neugier und das Interesse für die Tatsache aufzubringen, dass es Stimmen gibt, die weniger Gehör finden als andere. Wenn wir uns auf die Suche dieser Stimmen begeben, können wir viel dazulernen.

 

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