Parc Adu­la wird kein Na­tio­nal­park

Nein an der Urne: Absage an den zweiten Nationalpark

Am Wochenende vom 26. und 27. November haben 17 Gemeinden in Graubünden und im Tessin darüber abgestimmt, ob in der Schweiz ein zweiter Nationalpark entstehen soll. Das Verdikt an der Urne ist klar: Acht von 17 Gemeinden haben die Vorlage verworfen; das Projekt ist gescheitert. Für TEC21 erkundete Lukas Denzler die Stimmung vor der Abstimmung: Die Debatten verharrten allzu oft in einem Schwarz-Weiss-Muster.

Publikationsdatum
22-11-2016
Revision
28-11-2016

Die Würfel für den Parc Adula sind gefallen. Zwei von drei Tessiner Gemeinden und sechs von 14 Bündner Gemeinden haben den Plan, gemeinsam den Nationalpark «Parc Adula» zu gründen, verworfen.1 Höchstens vier hätten es sein dürfen. Zu den ablehnenden Gemeinden zählt insbesondere auch Blenio, das den grössten Teil zur Kernzone beigesteurt hätte. Eine deutliche Zustimmung fand das Projekt im Misox und Calancatal. In den Dörfern im Kerngebiet rund um die Greina wie Vrin, Sumvitg, Medel und Blenio erreichte der Nein-Stimmenanteil teilweise 75 %. An der Gemeindeversammlung in Vals, die am Freitag vor dem Abstimmungswochenende abgehalten wurde, ist die Beteiligung am Nationalpark mit 276 zu 63 Stimmen ebenfalls deutlich verworfen worden.

Seinen Namen hat der nun gescheiterte Nationalpark vom Rheinwaldhorn, italienisch Adula. Das Territorium hätte zwischen dem San Bernardino- und dem Lukmanierpass gelegen, und sich vom Calancatal und oberen Misox über das Rheinwald, die Surselva bis ins Bleniotal erstreckt.2 Mit 1250 Quadratkilometern wäre der Parc Adula etwas grösser als der Kanton Uri. In ihm würden rund 16 000 Einwohner italienischer, rätoromanischer und deutscher Muttersprache leben.

Die Entscheidung

Im Jahr 2000 entstand in der Region die Idee, einen neuen Nationalpark zu errichten, dessen Zentrum die aus dem Kampf gegen die Grosswasserkraft bekannte Greina-Hochebene sowie der höchste Berg der Region, das Rheinwaldhorn, sein sollte. In der 142 km2 grossen Kernzone (11,4 Prozent der gesamten Parkfläche) ist eine Nutzung grundsätzlich ausgeschlossen, wobei gewisse Ausnahmen – etwa für die traditionelle Alpnutzung oder das Strahlen – zulässig sind. Wanderer, Bergsteiger und Skitourenfahrer müssen sich an die offiziellen Wege und Routen halten. Die Regeln für die Kernzone sind in der sogenannten Charta des Parks festgehalten.3

In der Umgebungszone hingegen stehen die nachhaltige Entwicklung und die Pflege der Kulturlandschaft im Vordergrund. Die Gegner des Parc Adula befürchten zusätzliche Einschränkungen auch in der Umgebungszone. Seit Pro Natura Anfang 2016 verlauten liess, in der Umgebungszone seien die in Artikel 18 der Pärkeverordnung formulierten Ziele zu beachten (etwa dass das Landschafts- und Ortsbild zu erhalten und so weit wie möglich aufzuwerten ist), bekräftigen die Promotoren des Nationalparks, Vertreter der Kantone Graubünden und Tessin sowie Bundesrätin Leuthard, dass diese Ziele nicht über neue Verbote erreicht werden sollen. Die Umgebungszone sei vergleichbar mit den Regionalen Naturpärken, von denen es in der Schweiz mittlerweile über ein Dutzend gibt. Das werde so auch in den kantonalen Richtplänen festgehalten. Die Kritiker wollten das aber natürlich nicht recht glauben.

Eine Umfrage der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) im Gebiet ergab 2013 insgesamt eine leicht positive Tendenz gegenüber dem Projekt. Die Bevölkerung im Misox war am positivsten eingestellt, während vor allem die in der Surselva eine ausgeprägte Skepsis festzustellen war. Dieses Stimmungsbild hat sich beim Urnenentscheid bestätigt.

In Vrin den Puls fühlen

Vor der Entscheidung, dem Abstimmungswochenden vom 26. und 27. November, habe ich das Lugnez im Bündner Oberland besucht. In Vrin findet eine der sieben vom Parc Adula organisierten Informationsveranstaltungen statt. Das gelbe Postauto bringt mich von Ilanz nach Vrin. Im Bus sitzen auch viele Schüler, die in ihre Dörfer zurückkehren. Unterwegs steigen weitere Kinder zu. Ich frage mich: Was bedeutet die Entscheidung über den Parc Adula für diese jungen Menschen? Verbessert er die Chancen einer Randregion, sich auch künftig zu behaupten? Angesprochen auf den Nationalpark, geben sich die Schüler wortkarg. Man spürt, es ist ein Thema, das die Gemüter bewegt.

Vor zwölf Jahren war ich bereits einmal in Vrin. Ich recherchierte über die Berglandwirtschaft und über den erfolgreichen Weg, den die Vriner eingeschlagen haben. 1998 erhielt Vrin den Wakkerpreis. Grosse Aufmerksamkeit erhielt das Dorf zuhinterst im Tal auch durch die Totenstube (Stiva da morts) und die neuen Ställe von Gion A. Caminada. Im vorderen Lugnez bekam ich aber auch zu hören: Warum interessiert ihr euch immer nur für Vrin?

In Vrin hält der Bus vor dem kleinen Laden, der Würste aus der dorfeigenen Mazlaria verkauft. Die Realisierung des Ladens ermöglichte der Parc Adula. Ich spaziere durch das Dorf, lese ein Plakat, das für den Park wirbt. Ein anderes zieht den Vergleich mit den Indianern, die ihr Land für eine Illusion verkauft hätten. Man solle nicht den gleichen Fehler machen. An einer Holztüre haftet ein Kleber: «Parc Adula, NA engraziel!».

Während ich diesen betrachte, öffnet sich ein Fenster auf der anderen Strassenseite. Ein älterer Herr mit Bart schaut zu mir herab. Im Gespräch wird rasch klar, dass er gegen den Nationalpark ist. Man habe sie angelogen, wettert er. Und Antworten hätten sie auch keine. Der Parc Adula sei eben das erste Projekt dieser Art, entgegne ich. Da könne noch nicht alles klar sein, und man müsse zusammen nach Lösungen suchen. Und vielleicht sollte man ja auch etwas an die Zukunft und den Tourismus denken. Worauf der ältere Herr meinte: «Touristen haben wir in Vrin genug.» Nicht ganz gleicher Meinung ist die Verkäuferin im kleinen Laden. Ich kaufe eine Hirsch- und eine Gamswurst.

Informationsabend im Gemeindesaal

Nach diesen ersten Begegnungen bin ich gespannt auf den Informationsabend. Zuerst präsentieren Fabrizio Keller, der Präsident des Vereins Parc Adula, und Rico Tuor vom Team der Geschäftsstelle das Projekt und die Charta, über die abgestimmt wird. Keller ist italienischer Muttersprache, spricht aber auf deutsch. Tuor spricht rätoromanisch. Bei Bedarf wird auf deutsch übersetzt, denn es sitzen auch Leute aus Vals im Saal. Auf die Fragen aus dem Publikum antworten die Verantwortlichen des Parc Adula, zum Teil auch die anwesenden Vertreter der Ämter des Kantons Graubünden. Ergänzt wird der Abend durch eine Präsentation von Reto Lamprecht, einem jungen Bauern aus dem Münstertal. Er spricht über seine Erfahrungen mit dem Agrotourismus in der Biosfera Val Müstair.

In den ersten Meinungsäusserungen wird vor zusätzlichen Forderungen der Naturschutzorganisationen gewarnt. Der Hüttenwart der Terrihütte kann nicht verstehen, weshalb die Menschen in der Greina auf den Wegen bleiben müssen, während die Schafe sich viel freier bewegen könnten. Ein Valser fragt sich, wie es gelingen soll, das weitherum bekannte Label «Greina» durch dasjenige des «Parc Adula» zu ersetzen. Ein anderer Valser sagt, er glaube nicht an die Kraft des Parc Adula, das Projekt sei nicht an der Basis entstanden. Darauf entgegnet Fabrizio Keller, man sei immer offen für alle gewesen. Und das Weggebot für die Menschen in der Kernzone ist laut Tuor durch den Bund vorgegeben. Die traditionelle Schafhaltung auf der Greina hingegen werde als Ausnahme akzeptiert. Langfristig strebe man aber das Ziel an, den Anteil der beweideten Fläche in der Kernzone von heute rund 25 Prozent auf 15 Prozent zu reduzieren.

Auch der Schriftsteller Leo Tuor aus Sumvitg, einer der schärfsten Kritiker des Nationalparks, meldet sich zu Wort. «Wir brauchen keinen Park, wir brauchen Kinder», ruft er in den Saal. Mir kommen die Kinder im Postauto am Nachmittag in den Sinn. Könnte es nicht sein, dass womöglich der Nationalpark gerade dieser jungen Generation eine Perspektive bietet? Ein Valser spricht die Zukunft an: Vrin müsse sich fragen, wo man in zehn Jahren stehen wolle. Ein kurzer Moment herrscht Stille im Saal; dann ein leises Raunen. Leo Tuor frotzelt weiter. Die Leute vom Park hätten 16 Jahre lang gearbeitet, 10 Millionen Franken ausgegeben und keine einzige neue Idee geliefert. Die neuen Ideen und der unternehmerische Geist müssten in erster Linie die Leute vor Ort besteuern, antwortet Keller. Der Park könne eine interessante Plattform bieten. Abkapseln sei keine Lösung. Der Parc Adula biete den Gemeinden die Möglichkeit, ihre Zukunft gemeinsam zu gestalten, findet er.

Was der Parc Adula auch sein könnte

Einen wohltuenden Akzent in der polarisierten Diskussion setzt Gion A. Caminada, der bekannte Architekt aus Vrin. Ihn hätten seit Anfang die Extrempositionen gestört. Letztlich gehe es darum, die vielfältigen Beziehungen zu pflegen und zu verbessern. Gelinge dies dem Berggebiet nicht, haben man hier oben ein Problem, so Caminada. Die Landwirtschaft sei auf Subventionen des Bundes angewiesen, die Gastbetriebe auf Touristen, und gute Nachbarn seien ebenfalls wichtig.

Gion A. Caminada und Silvan Blumenthal beschäftigten sich an der ETH Zürich intensiv mit dem Lebensraum und der Nationalparkidee im Adulagebiet. Zusammen mit zwei Architekturbüros aus dem Bleniotal und dem Misox entstanden Ideen, wie die Tore zum Parc Adula gestaltet werden können. Damit sind die Zugänge von den Dörfern zur Kernzone im Zentrum des Parks gemeint. «Die Tore zum Adula sind aber nicht blosse Zugänge oder Wegweiser. Sie müssen mehr leisten: Sie sind Orte, in denen die Beziehungen zwischen Berg und Stadt erzeugt werden», heisst es in der Kurzfassung. Die Tore würden in mehreren Dörfern in den Tälern erstellt, dort wo sich Einheimische und Gäste begegnen und von wo der Aufstieg in die Kernzone möglich ist.4

Zentrale Themen sind die Grenze, der Turm und die Werkstatt. Die Grenze als Ort der Differenz; sie bezeichnet ein Gebiet und ermöglicht die Herausbildung einer Identität. Der Turm als Ort des Zeichens; er steht an einem Übergang. Die Werkstatt als Ort des Ereignisses; hier soll Raum sein für Begegnungen - und Neues entstehen. Diese zwei Bauten, der Turm und die Werkstatt, bilden zusammen jeweils das «Tor» an einem bestimmten Ort. Der Turm wäre neu zu bauen, während für die Werkstatt ein Neubau oder die Umnutzung eines bestehenden Gebäudes vorzusehen wäre. 

So könnte der Park viel mehr sein als lediglich ein Projekt zum Schutz der Natur oder ein touristisches Projekt zur Entwicklung der regionalen Ökonomie. Nach der Vorstellung von Caminada könnte er zum Ort der Beziehungen zwischen den städtischen und ländlichen Räumen, zwischen den Tälern im Park und zwischen Mensch und Natur werden. Somit wäre der Parc Adula eben nicht nur ein lokales Projekt; die Idee hätte eine nationale Dimension. Der Nationalpark stünde auch für eine neue Art von Regionalpolitik. Er schränkt die Freiheit des Einzelnen zwar ein, eröffnet aber neue Handlungsmöglichkeiten. Gion A. Caminada findet denn auch, dass den diffusen Ängsten wohl weniger die Angst vor einem Verlust an Freiheit zugrunde liegt, als vielmehr die Angst vor Veränderung.

Bricht die Nordflanke weg?

Die Vriner, so viel ist klar, bleiben skeptisch. Gut möglich, dass sie zusammen mit den Nachbargemeinden Vals und Sumvitg den Nationalpark ablehnen. Damit würde nicht nur ein wichtiger Teil des Parks im Norden wegbrechen, die Greina würde auch geteilt. Und das wäre mehr als ein Schönheitsfehler. Gerade auch, weil der Ring der verschiedenen Kulturen und Sprachen rund um das Rheinwaldhorn nicht mehr komplett wäre. Wenn alle anderen Gemeinden zustimmen, könnte der Parc Adula zwar starten. Mindestens 13 der 17 Gemeinden müssen zustimmen. Entscheidend ist in jedem Fall aber das Verdikt aus Blenio. Falls die Tessiner Gemeinde das Projekt ablehnt, unterschreitet die Kernzone die erforderliche Grösse von 100 km2 – ohne Blenio kann der Nationalpark kaum realisiert werden.   

Die Debatten zeigen deutlich, dass das Misstrauen in der Bevölkerung gross ist. Die heftigen und teilweise auch giftigen Auseinandersetzungen erstaunen. Das gegenseitige Verständnis und der Zusammenhalt von wirtschaftlich starken Zentren und dem Berggebiet scheinen zu bröckeln. Und das ist kein gutes Zeichen. Gerade Projekte wie der Parc Adula könnten eine neue Plattform bieten, auf der die Beziehungen erneuert und auch neu ausgehandelt werden können.

Einen Weg in die Zukunft finden

Bei der bevorstehenden Abstimmung geht es nicht um die Frage Parc Adula oder Status quo – die Dinge werden sich ohnehin ändern. Vielleicht sogar rascher, als es sich manche vorstellen. Die entscheidende Frage ist, wie eine Randregion den Weg in Zukunft findet und was für Perspektiven sie ihren Bewohnern bieten kann. Gerade die Schweiz als Gebirgsland sollte sich mit diesen Fragen auseinandersetzen. Wie die Debatte um den Parc Adula zeigt, hat diese Diskussion noch nicht wirklich begonnen.

Vielleicht sorgen die Gemeinden am Sonntag für eine Überraschung und stimmen dem Projekt zu. Dass ein Nationalpark «bottom-up» gegründet wird, dürfte es bisher auf dem Globus kaum gegeben haben. Wenn also Valser, Romanen, Tessiner und Italienischbündner sich für den Nationalpark aussprechen, dann schafft die Bevölkerung rund um das Adulagebiet etwas Einmaliges – und in Zürich, Basel und Bern würde man das erstaunt bis bewundernd zur Kenntnis nehmen.
 

Anmerkungen:
1 Informationsbroschüre zur Volksabstimmung über das Nationalparkprojekt Parc Adula vom 27. November 2016.
2 Parkperimeter
3 Charta des Parc Adula
4 Kurzfassung des Projekts an der Professur Gion A. Caminada, ETH Zürich.

 

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