Ästhetische Effizienz
Konstruktiver Ingenieurbau
Ein schlichter Stadtbaustein in der Strassenrandbebauung des denkmalgeschützten Stickereiquartiers von St. Gallen: Das neue Bürogebäude knüpft auf modernisierte Weise an die Bautradition vor Ort an – architektonisch und tragwerkspezifisch.
Viele der Stickereibauten, die während der Blüte der St. Galler Textilindustrie um 1910 entstanden, enthalten hinter den Natursteinfassaden einen Stahlbeton-Skelettbau. Er gewährleistete eine flexible Nutzung und grosse Fassadenöffnungen, die viel Licht in die Innenräume lassen. An der Unterstrasse knüpft nun der Bürobau des Architektenteams Corinna Menn / Mark Ammann und der Tragwerksplaner Pedrazzini Guidotti in moderner Weise an diese strukturelle Tradition des Orts an.
Faltung schafft Ästhetik und Effizienz
Im Siegerprojekt des 2013 ausgelobten Wettbewerbs bedienen sich die Ingenieure des vorgespannten Betons, des Rahmen- und des Falttragwerks sowie eines Stahlträgers als Rückgrat im Attikageschoss. Dabei komponieren sie die Tragsysteme so mit- und untereinander, dass ein Gebäude entsteht, das geschossweise flexibel nutzbar ist, ein effizientes Tragwerk enthält und grosszügige und behagliche Arbeitsräume bietet.
Diese Räume sind geprägt von grossen Fenstern und dem Faltwerk, das sich sichtbar in den Stahlbetondecken des 1. UG bis zum und mit dem 3. OG zeigt. Es besteht aus dünnen Platten aus Spannbeton – 15 cm im Mittelfeld und linear zunehmend bis auf 23 cm bei den Auflagern entlang der Fassade – und ist mit Rippen versteift, sodass jede Falte als druck- bzw. zugbelasteter Gurt funktioniert. Mit sechs Falten pro Decke spannt es ohne Zwischenabstützung über die gesamte Gebäudebreite von rund 13 m. Auf der Innenschale der Längsfassade liegt es auf. Die Faltung gibt dem schlanken Tragwerk die notwendige Steifigkeit – wird doch mit ihr eine statische Höhe von 66 cm erreicht.
Rahmentragwerk im Rhythmus der Fassade
Die Konstruktion birgt die Vorteile einer Flachdecke, ist aber wesentlich leichter. Das ermöglicht schliesslich die grosszügigen Fenster in der Längsfassade, obwohl diese das Deckenauflager ist. Beide Längsfassaden funktionieren als Rahmenkonstruktion mit vorgesetzter, selbsttragender Backsteinfassade. Letztere ermöglicht mit ihren strukturellen Öffnungen Lichteinfall und Lastabtrag zugleich – die Riegel fangen die Deckenlasten ab und leiten sie über die Pfeiler in den Baugrund ab. Dabei nimmt die Pfeilerbreite geschossweise nach oben ab und widerspiegelt den Kräftefluss.
An den Enden des knapp 40 m langen Gebäudes sind die aussteifenden Kerne hochgezogen. Sie tragen einen dreifeldrigen Stahlträger im Attikageschoss. Zurückversetzt können die vertikalen Kräfte hier nicht direkt auf die Faltdecke des 3. OG gestellt werden; zu hoch wäre die statische Belastung. Der Lastabtrag im Attikageschoss erfolgt deshalb um 90° gedreht in Längsrichtung des Gebäudes zu den flankierenden Kernen. Die innere Wand ist Druckauflager, und die äussere übernimmt Zugkräfte. Das Abspannen der Stahlträgerenden entlastet das Mittelfeld, wodurch die Ingenieure die statische Höhe des Trägers trotz der grossen Spannweite von 31.8 m reduzieren konnten. Mit relativ wenig Material schaffen sie im gesamten Haus offene und flexibel nutzbare Grossräume.
Eine ausführlichere Version dieses Artikels ist im dreisprachigen Buch «Schweizer Ingenieurbaukunst 2017/2018» erschienen..
Schweizer Ingenieurbaukunst 2017/2018
Clementine Hegner-van Rooden et al.: Schweizer Ingenieurbaukunst – L’art des ingénieurs suisses – Opere di ingegneria svizzera – 2017/2018.
espazium – Der Verlag für Baukultur, Zürich 2018, 128 S., 21 × 29.7 cm, Softcover; deutsch, französisch, italienisch; zahlreiche farbige Pläne und Abbildungen,
ISBN 978-3-9523583-8-2; Fr. 49.–
Am Bau Beteiligte
Bauherrschaft
Asga Pensionskasse St. Gallen
Architektur
Corinna Menn, Chur / Zürich (Federführung) in Arbeitsgemeinschaft mit Mark Ammann, Zürich
Generalunternehmung
Dima & Partner, Glarus
Tragwerksplanung
Ingegneri Pedrazzini Guidotti, Lugano (Federführung) in Arbeitsgemeinschaft mit Borgogno Eggenberger, St. Gallen (Bauausführung)
HLKS-Planung, Bauphysik
IEP Ingenieure, St. Gallen
Elektroplanung
Bühler + Scherler, St. Gallen
Montagebau Stahl
Ernst Fischer, Romanshorn
Heizungs- und Lüftungsanlagen
Hälg & Co. Gebäudetechnik, St. Gallen
Erdsonden
Hastag, St. Gallen
Baukosten
12.5 Mio. Fr.
Bauzeit
Oktober 2015 bis Juli 2017
Fertigstellung
August 2017