«Alle rationalen Argumente sprechen für unser Konzept»
Die Amtsvariante
Der Direktor des Bundesamts für Strassen, Jürg Röthlisberger, gehört zu den vehementesten Befürwortern einer Parallelröhre für den Gotthard-Strassentunnel. TEC21 hat sich mit ihm über die Abstimmung im Februar, die Tunnelsicherheit, die Instandsetzung und den Neubau unterhalten.
TEC21: Herr Röthlisberger, der Gotthard-Strassentunnel wurde 1980 eröffnet. Instandsetzungsmassnahmen sind unumgänglich. In Kürze: Welche sind das?
Jürg Röthlisberger: Einerseits geht es ganz klassisch um die Erhaltung der bestehenden Bausubstanz. Vor allem die Tunneldecke, der Belag und die elektromechanischen Anlagen müssen ersetzt werden. Andererseits geht es darum, den Tunnel an die heute geltenden Sicherheits- und Umweltnormen anzupassen.
Ein Beispiel ist die Beherrschung der Längsströmung. Heute können wir diese im Gotthard kaum beeinflussen. Das möchten wir mit der Instandsetzung ändern, um im Brandfall die Luft, die sich schnell ausbreitet und toxisch ist, lokal absaugen zu können.
TEC21: Die Norm sieht für Neubauprojekte eine Höhe des verkehrstechnischen Nutzraums von 5.20 m vor. Im Gotthard soll die Zwischendecke angehoben werden, um eine Höhe von 4.80 m zu erreichen. Genügt das?
Jürg Röthlisberger: Wenn wir bei den Massnahmen zur Erhöhung der Sicherheit in allen unseren 239 Tunnels die Neubaunorm anwenden würden, müssten wir fast jedes Mal neu bauen. Deshalb wird jeder Tunnel risikotechnisch analysiert, um zu sehen, wie weit man von der Norm abweichen kann. Am Gotthard gehen wir mit 4.80 m kein zusätzliches Risiko ein. Die Höhe erfordert lediglich etwas komplexere Systeme für die Überkopfsignalisation, aber das ist sicherheitstechnisch machbar.
TEC21: Wann müsste die Instandsetzung spätestens umgesetzt sein, damit der Tunnel sicher betrieben werden kann?
Jürg Röthlisberger: Bis 2025. Wenn wir die Anlage entsprechend unterhalten und sogenannte Überbrückungsmassnahmen umsetzen, können wir das Bauwerk
in extremis bis 2035 sicher betreiben.
TEC21: Was meinen Sie mit Überbrückungsmassnahmen?
Jürg Röthlisberger: Als wir vor sieben Jahren mit der Projektierung der Instandsetzung angefangen haben, gingen wir zum Beispiel davon aus, dass wir die bereits heute teilweise schadhafte und statisch unterdimensionierte Zwischendecke komplett austauschen müssen, dazu eine Vollsperrung nötig ist und die Kosten bei rund 250 Millionen Franken liegen.
Inzwischen haben wir das Bauwerk weiter untersucht und mit der Empa materialtechnologische Versuche gefahren. Heute sind wir überzeugt, dass die Überbrückungsarbeiten während der Sperrnächte zwischen Frühling und Herbst auszuführen sind, wenn der Pass offen ist – immer noch für rund 250 Millionen Franken. Wir können den heutigen Zustand mit materialtechnologischen Massnahmen bis maximal 2035 konsolidieren. Ein einfaches Beispiel: Indem man die Decke speziell beschichtet, werden die Chlorideinträge reduziert.
TEC21: Überbrückungsmassnahmen allein genügen nicht. Um umfassend instand setzen zu können, schlägt das Astra vor, eine zweite Röhre zu bauen. Was spricht dafür?
Jürg Röthlisberger: Die rationalen Argumente. Wer sich auf die Ratio einlässt, kommt um das Konzept von Bundesrat und Parlament nicht herum. Weil es das einzige ist, das einen bleibenden Mehrwert schafft.
Die nächste Instandsetzung wird in rund 30 Jahren fällig sein. Die Unterhaltszyklen werden sogar eher kürzer.
TEC21: Wie begründen Sie das?
Jürg Röthlisberger: Wir haben heute eine Richtungstrennung von Hamburg bis Göschenen und von Airolo bis Savona, aber nicht im längsten Alpentunnel der Welt. Der zweite Grund ist: In rund 30 Jahren muss erneut instand gesetzt werden, wobei die Unterhaltszyklen eher kürzer werden, da die Tunnelanlage nicht jünger wird. So gesehen ist die Investition in eine zweite Röhre auch eine Investition in künftige Generationen. Wenn wir eine Ersatzinfrastruktur für den Bahnverlad erstellen, müssen wir wiederkehrend alle 30 Jahre temporäre Anlagen bauen und brauchen dafür das Geld und die Flächen.
Zum Dritten geht es darum, den Verkehr während der wiederkehrenden Realisierungszeiten zu organisieren. Wir bauen für viel Geld die Neat und wollen die Güter auch auf dieses Förderband bringen. Es gilt aber zu bedenken, dass das Verlagerungsziel am Gotthard bei rund 500 000 Lastwagen pro Jahr zu 100 % erreicht ist. Das entspricht rund 60 % des heutigen Verkehrs.
Das heisst nicht nur, dass die vom Volk beschlossene Verlagerung ohne Wenn und Aber umgesetzt werden soll, sondern auch, dass alle kommenden Generationen das Verkehrsproblem während der Gotthard-Instandsetzungen lösen müssen.
TEC21: Um die Sicherheit im Tunnel zu erhöhen …
Jürg Röthlisberger: … Ein Wort noch zur Sicherheit. Unter den Gegnern einer zweiten Röhre sind viele Vertreter des öffentlichen Verkehrs, der öV war und ist das Verkehrssystem, bei dem die Sicherheit unverhandelbar ist. Dafür habe ich Verständnis, aber ich finde es intellektuell nicht redlich und gegenüber unserer Kundschaft eine Zumutung, dass man der Strasse eine Richtungstrennung im Gotthard nicht auch zugesteht. Einem Verkehrssystem, das per se unsicherer ist.
Nach Aussagen des BAV würde es heute ein Projekt im Gegenverkehr aus Sicherheitsgründen nicht genehmigen – und das bei einem spurtreuen Fahrsystem. Aber bei der Strasse hält man das für zumutbar. Das nehme ich den Gegnern unserer Lösung übel. Allerdings ist das der einzige Punkt, bei allem anderen kann man geteilter Meinung sein, sofern man die Emotio höher gewichtet als die Ratio.
TEC21: Die Richtungstrennung, die Instandsetzung, die kürzer werdenden Unterhaltszyklen und eine misinterpretierte Verlagerung sind für Sie wichtige Gründe. Gibt es weitere?
Jürg Röthlisberger: Nicht zu vernachlässigen sind politische und gesellschaftliche Gründe. Ein ganzer Landesteil, eine Sprach- und Kulturregion würde einfach abgehängt. Und wenn das kein Abhängen ist, müsste man sich fragen, wieso man dann früher überhaupt einen Tunnel gebaut hat. Das Tessin pocht zurecht darauf, nicht nur ein Ferienland zu sein, sondern auch eine Wirtschaftsregion.
TEC21: Spielen in diesem Zusammenhang die übergeordneten Transitkorridore eine Rolle?
Jürg Röthlisberger: Selbstverständlich sind die Korridore sowohl innerschweizerisch als auch europäisch bedeutend. Und sie bleiben es auch, wenn die Verlagerung zu 100 % umgesetzt ist. Zudem sind wir durch das Landesverkehrsabkommen verpflichtet, diese Achse offen zu halten. Kapazität haben wir mehr als genug, sie reicht nur bei der absoluten Spitzenbelastung nicht aus. Aber auch andere Verkehrsinfrastrukturen in der Schweiz sind nicht auf die Spitzenbelastung ausgelegt.
Wenn die nächste Generation eine dritte oder vierte Röhre bauen wird, ist das ihr Recht.
TEC21: Welche Elemente einer zweiten Röhre wären nach dem Bau an der Oberfläche sichtbar?
Jürg Röthlisberger: Landschaftlich sind die Eingriffe minim. Heute haben wir sechs Lüftungskamine in recht gutem Zustand. Sie müssen erst in ca. 30 Jahren unterhalten werden. Die zweite Röhre würde diese mitbenutzen, weil der Verkehr ja nicht zunimmt. Von aussen betrachtet, gäbe es nach dem Bau keine Änderung gegenüber heute. Nach der Sanierung wird der Verkehr in beiden Richtungen einspurig und richtungsgetrennt geführt werden und die heutigen Portale nutzen.
TEC21: Sie sind überzeugt, dass der Verkehr im Tunnel nicht zunimmt? Eine nächste Generation könnte das aber ändern.
Jürg Röthlisberger: Genau. In der direkten Demokratie hat jede Generation das Recht, das zu tun, was ihr unter dem jeweiligen Eindruck der Rahmenbedingungen und der Werte richtig erscheint, bis hin zur Anpassung der Bundesverfassung.
Mein Eindruck ist, die Gegner der zweiten Röhre beanspruchen für sich, dass ihr Gedanke, der vor 30 Jahren richtig war und auch heute richtig ist, noch in 100 Jahren richtig ist. Keine Generation hat aber das Recht, die Welt so zu gestalten, dass nächste Generationen keine Handlungsoptionen mehr haben. Wir wollen so investieren, dass die kommende Generation etwas davon hat. Und wenn sie eine dritte oder eine vierte Röhre am Gotthard bauen wird oder umgekehrt alle Röhren am Gotthard schliessen wird, ist das ihr Recht.
TEC21: Ein Argument, das die Gegner anführen, ist die Macht des Faktischen.
Jürg Röthlisberger: Das ist ein ernst zu nehmendes Argument: Ich habe vier Spuren, also nutze ich sie auch. Aber im übertragenen Sinn gilt das für viele Lebensbereiche. Ein Beispiel: Es gibt in Bern viele Tempo-30-Zonen, mein Auto kann aber 180 km/h fahren, darf ich dann dort nicht durchfahren?
Es gibt nicht den geringsten Grund, dass man ausgerechnet in der Schweiz davon ausgehen sollte, dass das, was in der Verfassung steht – und jetzt neu noch mit dem Tropfenzählersystem auf Gesetzesstufe bestätigt wird – irgendwo auf einer niederen Beamtenebene umgangen wird. Das ist schlicht ausgeschlossen. Wahrscheinlich gibt es kein anderes so gut beobachtetes Objekt wie den Gotthard.
TEC21: Wie geht es bei einem Ja für das Astra weiter?
Jürg Röthlisberger: Zunächst würde es mich persönlich freuen, wenn sich die rationalen Gedanken durchsetzten und es am Gotthard eine Abstimmung gäbe, bei der nicht die Emotionen ausschlaggebend sind. Natürlich wäre es auch ein Auftrag, eine Verantwortung und der Druck, zu beweisen, dass die Projekte realisierbar sind, und zwar in der geplanten Zeit und im prognostizierten Kostenrahmen.
Fatal wäre, wenn die Kosten aus dem Ruder laufen würden. Aber ich bin überzeugt, dass die 2.8 Milliarden Franken ausreichen. Was ich bei den Verladeanlagen nicht unbedingt so sehe, das mag tendenziös tönen, ist aber eine ehrliche Aussage.
Es würde mich freuen, wenn es am Gotthard eine Abstimmung gäbe, bei der nicht die Emotionen ausschlaggebend sind.
TEC21: Und die Realisierungszeit?
Jürg Röthlisberger: Wir möchten vor 2035 eine zweite Röhre gebaut und die Instandsetzung abgeschlossen haben. Das ist herausfordernd, aber lösbar. Zeitlich kritisch sind die Auflageverfahren. Wir müssen ein Projekt vorlegen, das mit den Regionen gut abgestimmt ist. Beim Gotthard-Basistunnel waren auch vergaberechtliche Gründe für eine Verzögerung verantwortlich. Daraus haben wir gelernt und werden alles tun, damit uns das nicht passiert.
TEC21: Was würde ein Nein für Sie bedeuten?
Jürg Röthlisberger: Dann nehmen wir das sportlich, aber es würde mir grosse Sorgen machen. Nicht die Instandsetzung, aber der Bau der Verladeanlagen. Die Kantone Uri und Tessin wollen keine Verladeanlagen. Niemand möchte diese Flächen, die in ihrer Auslegung ein Abbild derjenigen von Dover und Folkestone sind. Dann bräuchte es Enteignungen, grundsätzlich dürfen wir das als Bund, aber es ist demokratisch heikel und braucht Zeit. Der Super-GAU wäre, wenn wir den Tunnel schliessen müssten, ohne ein Ersatzangebot machen zu können.
TEC21: Was machen Sie dann?
Jürg Röthlisberger: Das weiss ich auch nicht. Klar kann man versuchen, einen Teil der Güter zusätzlich durch den Gotthard-Basistunnel zu schicken, aber das verzögert den Passagierverkehr, und auch die Lang-RoLa bräuchte irgendwo zusätzliche Verladeflächen. Die Kurz-RoLa würde die Verlagerung sogar konkurrenzieren, denn Verlagerung heisst nicht von Airolo nach Göschenen, sondern von Grenze zu Grenze.
Die Rückfallebene, sprich der Bahnverlad, kämpft mit den gleichen Risiken wie die zweite Röhre, nur ausgeprägter: Kostensicherheit und Realisierbarkeit. Hinzu kommt, dass diese Rückfallebene landschaftlich hässlich ist.
TEC21: Die Stimmbürger können nur zwischen einer Instandhaltung mit einer zweiten Röhre und einer Instandhaltung ohne den Bau einer zweiten Röhre wählen. Andere Alternativen gibt es nicht?
Jürg Röthlisberger: Nichts zu machen ist keine Option. Denn die Achse muss man allein aus wirtschaftlichen Gründen offen halten. Wenn nicht, würde das zu einer starken Verdrängung auf die anderen Achsen führen, auf die San-Bernardino- oder die Simplon-Route und den Grossen St. Bernhard. Diese Strecken sind noch unsicherer, ausserdem ist es energetisch unsinnig, 40-Tonner auf 2000 m zu jagen.
Unser Auftrag von Parlament und Bundesrat lautet: Während der Dauer der Schliessung des bestehenden Tunnels müssen wir ein Ersatzangebot organisieren. Eine Variante ohne Ersatzangebot ist nie ernsthaft diskutiert worden, denn die Auswirkungen wären katastrophal – innerschweizerisch und international.
TEC21: Warum ist die Situation gerade am Gotthard so emotional?
Jürg Röthlisberger: Neben dem Mythos Gotthard, der hier sicher mitschwingt, werden die Themen vermischt. Die Instandsetzung des Gotthard-Strassentunnels ist eine Konkurrenz im Sanierungsportfolio. Das ist richtig. Sie steht aber nicht in Konkurrenz zu Projekten der Engpassbeseitigung. Es ist unsere Aufgabe, zu priorisieren und das Netz ganzheitlich gesund zu halten.