Methodik für Risikoanalysen in Tunneln
Astra-Richtlinie 19004
Normenbasierte Vorgaben bei der Planung von Strassentunneln nehmen nicht direkt Rücksicht auf Kosten und technische Schwierigkeiten des jeweiligen Tunnelsystems. Vom Astra entwickelte quantitative Ansätze binden Risiken und Kosten schon in den Planungsprozess ein.
In den letzten zwei Jahren haben sich Tunnelbauexperten mit der Richtlinie 19004 des Schweizerischen Bundesamts für Strassen Astra Risikoanalyse für Tunnel der Nationalstrassen befasst. Sie legt fest, wann und wie bei der Neuplanung oder Sanierung von Tunneln Risiken mittels quantitativer Methoden analysiert werden müssen. Das Risiko von Personenschäden soll ein gesellschaftlich «tolerierbares» Niveau nicht überschreiten, zugleich ist das Prinzip der Verhältnismässigkeit zu wahren: Die Sicherheit soll so lang schrittweise erhöht werden, bis dies kosteneffizient nicht mehr möglich ist (vgl. «Kalkulierbare Sicherheit», TEC21 43/2015). Nun wurden Erfahrungen gesammelt, wie mit der Richtlinie in der Praxis umgegangen werden soll.
Segmentieren, modellieren, quantifizieren
Bei der neuen Methodik wird ein Tunnel durch zahlreiche Parameter (Risikoindikatoren) charakterisiert, die Einfluss auf seine Sicherheit haben: Verkehrsaufkommen, Längsneigung, Fluchtwege oder Brandschutzeinrichtungen. Diese Parameter variieren über die gesamte Tunnellänge. Daher unterscheidet sich auch das Unfall-, Brand- oder Todesfallrisiko in jedem Tunnelabschnitt. Am Eingangsportal etwa ist das Unfallrisiko aufgrund der wechselnden Lichtverhältnisse in der Regel höher als im Innenbereich oder bei der Ausfahrt.
Mittels Bayesian Probability Nets (BPN) werden Tunnel in Segmente mit identischen, einfach zu beschreibenden Parametern eingeteilt, die verschiedenen Risikofaktoren modelliert und das Risiko für Unfälle, Brände und Gefahrengutereignisse für jedes Segment ermittelt. Aus diesen Ereignisraten sowie weiteren Indikatoren (z. B. Fluchtwegdistanz und Lüftungssystem) wird pro Segment das Risiko für Todesfälle und Verletzte abgeleitet.
Die Aggregation der Ergebnisse aller Segmente ergibt das Gesamtrisiko in Form quantifizierbarer Konsequenzen für jede Fahrtrichtung und das gesamte Tunnelsystem. Diese sind mit festgelegten Grenzwerten zu vergleichen. Gegenüber rein normenbasierten Ansätzen erlaubt dieses quantitative Verfahren, zahlreiche Faktoren realitätsnah zu modellieren, und liefert reproduzierbare, präzise Resultate für aussagekräftige Schlussfolgerungen.
Beispiele aus der Praxis
Die Methodik bei quantitativen Risikoanalysen wird in verschiedenen Planungsphasen angewendet. Zwei fiktive Fälle sollen das Vorgehen verdeutlichen. Im Beispiel 1 geht es um die Risikoanalyse eines bestehenden Tunnels. Das Astra hat ein Sanierungsprogramm initiiert, um bestehende Strassentunnel mit Gegenverkehr mit Notausgängen und/oder Fluchtstollen auszustatten. Dabei gilt es, die Kosteneffizienz solch teurer Massnahmen und eventuell wirtschaftlichere Alternativen zu prüfen.
Risikoanalyse zur Verbesserung der Notausgänge
Hierfür wurden zunächst die relevanten Risikoindikatoren für einen 2 km langen Tunnel mit 17000 Fahrzeugen im Gegenverkehr, 6 % Längsneigung und schwach ausgelegter Belüftung definiert. Die Analyse des Istzustands zeigte ein hohes Unfall- bzw. Todesfallrisiko aufgrund der hohen Längsneigung und des schwach ausgelegten Ventilationssystems. Besonders ausgeprägt ist das Brandrisiko in Richtung 1 (bergauf). Die Todesfallrate liegt jedoch in beiden Richtungen deutlich über der Toleranzgrenze von 13 Todesfällen pro Milliarde Fahrzeugkilometer. Fahrzeugbrände sind in diesem Beispieltunnel die grösste Risikoquelle.
Zur Senkung des Todesfallrisikos unter die Toleranzgrenze wurde die Situation mit der Anordnung von Notausgängen in einem Abstand von 300 m, 200 m und 100 m sowie mit einer verbesserten Beleuchtung neu evaluiert. Dabei rechnete man die Investitions- und Betriebskosten der Massnahmen in Jahreskosten um. Während die Kosten für die neue Beleuchtung niedrig ausfielen, schlugen die Notausgänge mit einer Investition von 25 Mio. Fr. und Jahreskosten von 1 Mio. Fr. zu Buche.
Bereits Notausgänge in Abständen von 300 m senkten das Todesfallrisiko deutlich. Mit Abständen von 200 m oder 100 m ging dieses Risiko auf die Hälfte bzw. ein Viertel zurück. Zugleich stiegen die Kosten mit den kürzeren Abständen nur unwesentlich, da ein Fluchtstollen ohnehin für alle Varianten erforderlich war. Der monetäre Nutzen der Risikominderung wurde gemäss Vorgaben für den Strassenverkehr in der Schweiz ermittelt, die Massnahmenkosten von 5 Mio. Fr. zur Verhinderung eines Todesopfers vorschreiben.
Die Effizienz der Massnahmen entspricht dem Verhältnis von monetärem jährlichem Nutzen zu den Jahreskosten. Im vorliegenden Beispiel ergab dies eine Effizienz von 1.425 (für Notausgänge alle 300 m), 1.430 (200 m) bzw. 1.401 (100 m). Die bessere Beleuchtung erbrachte einen vergleichsweise bescheidenen Nutzen, aber aufgrund geringer Jahreskosten eine Effizienz von 3.719.
Die Astra-Richtlinien sehen eine schrittweise Umsetzung der Massnahmen vor. Beginnend mit der effizientesten werden weitere Massnahmen ergänzt. Dabei muss die Effizienz jeder Massnahme nach jedem Schritt neu evaluiert werden, da die Risikominderung der bereits angewandten Massnahmen die Wirkung der folgenden verringert. Im gewählten Beispiel war jede Massnahme für sich kosteneffizient. In Kombination galt dies jedoch nur noch für Notausgänge in einem Abstand von 200 und 300 m. Letzten Endes muss das Massnahmenpaket die Todesfallrate unter die Toleranzgrenze senken, um zur Bauausführung empfohlen werden zu können.
Risikoanalyse eines Neubaus
Im Zuge der Planung eines 2 km langen Tunnels mit sehr hoher Längsneigung (mehr als der international akzeptierte Wert von 5 %) wurde eine um 500 m verlängerte, weniger steile Variante untersucht. Durch die Streckenführung mit tieferer Längsneigung konnte zwar die Brandgefahr pro Tunnelkilometer gesenkt werden, die zusätzlichen Tunnelmeter erhöhten aber die Anzahl der Unfalltoten (+10 %) und -verletzten (+5 %). Die längere Variante erbrachte höhere Opferzahlen bzw. eine Risikoerhöhung. Aufgrund der zusätzlichen Investitionskosten in Höhe von 25 Mio. Fr. für den 500 m längeren Tunnel und jährlichen Kosten von 1 Mio. Fr. erwies sich die Verringerung der Tunnelsteigung eindeutig als kontraproduktiv.
Risiken auf den Punkt gebracht
Bei der Sanierung veralteter Strassentunnel, aber auch bei der Planung von Tunnelneubauten kommt die quantitative Risikoanalyse zur Anwendung. Gegenüber rein normenbasierten Ansätzen lässt sich damit das Gesamtrisiko der betrachteten Infrastruktur ermitteln und mit vorgegebenen Grenzwerten (Risikoakzeptanz) vergleichen. Sicherheitsmassnahmen werden auf Kosteneffizienz geprüft und nur bei positivem Verhältnis umgesetzt. Diese Methodik ermöglicht risikoorientierte Vergleiche von Projektvarianten mit reproduzierbaren Ergebnissen.