«Ex­pe­ri­men­tie­ren ist ein be­frei­en­der Akt»

Im zweiten Interview zum Prix de Genève, dem neuen Preis für Architekturexperimente, haben die Kollegen von TRACÉS Andreas Ruby befragt, den Direktor des S AM Schweizerisches Architekturmuseum. Er gibt einen wertvollen Einblick in die Landschaft der experimentellen Architektur in der Schweiz.

Publikationsdatum
22-05-2019

TRACÉS: Herr Ruby, wie kann dieser neue Preis architektonische Experimente unterstützen? Und warum dieser mehr als jeder andere?
Andreas Ruby: Es werden viele Auszeichnungen vergeben, und es scheint, als ob sich alle an die gleiche Art von Architektur richten. Deswegen ist dieser neue Preis gerade nicht überflüssig. Eine Schweizer Auszeichnung, die die Notwendigkeit des Experimentierens unterstreicht, ist sehr begrüssenswert. In diesem Land ist das architektonische Schaffen in erster Linie durch den Auftrag motiviert. Der dichte Markt schafft eine Ausgangslage, die die meisten Architekten dazu bringt, ausschliesslich an Wettbewerben oder Direktaufträgen zu arbeiten. Dadurch bleibt wenig Zeit und Gelegenheit zum Experimentieren.
Die Mehrheit der Architekten reagiert nur mehr auf die Fragen, die ihr gestellt werden. Das ist natürlich ein Luxusproblem. Dieser Luxus ist aber nicht nur positiv, denn eine Architektur, die sich mehrheitlich am Auftrag orientiert, hängt zwangsläufig von dessen Qualität ab. Es ist schwierig, einem mittelmässig interessant formulierten Auftrag mit einem aussergewöhnlichen Entwurf zu begegnen, selbst für einen guten Architekten. Das Experiment ist gerade der befreiende Akt, in dem der Architekt versucht, sich von der Konditionierung des Markts zu lösen oder sie zumindest auf Distanz zu halten. Die Grundlage einer experimentellen Praxis ist die Definition einer Hypothese. Viele Wettbewerbe lassen den Architekten jedoch heute keinen Raum, um eine echte Hypothese zu entwickeln. Zu oft wird die Antwort bereits mit der Frage suggeriert.
Das Experimentieren ist in gewisser Weise die Kunst, die richtigen Fragen zu stellen. Viele Meilensteine der modernen Architektur wurden von Architekten selbst initiiert, weil sie das Gefühl hatten, dass man genau dieses Projekt machen müsse. In der Schweizer Bauszene fallen mir nur wenige ein, die auf diese spekulative Weise arbeiten. Dennoch sollte es eigentlich selbstverständlich sein, dass Architekten sich zuerst ein konzeptionelles Territorium erschaffen müssen, bevor sie Gebäude zeichnen und konstruieren können. Der Prix de Genève kann eine Ermutigung für Architekten sein, dies zu versuchen.

Sie sagen, in der Schweiz sei der Trend zum Experimentieren weniger ausgeprägt als anderswo, weil es dem Immobilienmarkt sehr (oder zu) gut geht. Hängt das Experimentieren notwendigerweise von einer Krisensituation ab?
Ja, ich glaube, wir sind  nur erfinderisch, wenn wir es sein müssen.

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Sind also Länder, die schwere Immobilienkrisen erlebt haben, besser für Experimente geeignet? Ich denke zum Beispiel an die Länder Südeuropas. 

Dies ist sicher nicht  immer der Fall. Aber wenn aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen die normalen Produktionsmechanismen des Bauens ausser Kraft gesetzt werden, dann beginnen wir zu improvisieren, zu erfinden und zu experimentieren.
In Zürich beispielsweise kann der Erfolg von Wohnungsgenossenschaften als das Ergebnis einer Kombination zweier Phänomene gesehen werden: der Hausbesetzerbewegung in den 1980er-Jahren und der Wohnungskrise im folgenden Jahrzehnt. So begannen Architekten – die plötzlich weniger Arbeit hatten – und neu gegründete Wohnungsgenossenschaften gemeinsam zu denken und andere Wohnformen zu erfinden. Zusammen haben sie experimentelle Projekte entwickelt, die zu Paradigmen in der typologischen Entwicklung des zeitgenössischen Wohnens geworden sind. Ohne die Besetzerszene und die Immobilienkrise wäre diese aussergewöhnliche Fülle alternativer Typologien nicht entstanden.

Wieso eignet sich gerade Genf dafür, einen Preis für architektonische Experimente zu vergeben? Die lokale Architekturszene scheint momentan von den vorausschauenden Bestrebungen eines Pascal Häusermann oder Daniel Grataloup weit entfernt  zu sein …
In der Landschaft der visionären Architektur der 1960er-und 1970er-Jahre nimmt Genf sicherlich einen privilegierten Platz ein. Der beste Grund, diese Auszeichnung hier anzusiedeln,  ist aber gerade, die einheimischen Architekten heute wieder zu er-mutigen, ihr schlummerndes Potenzial zu nutzen.
Genf könnte zu einem Mekka für architektonische Experimente werden. Bernard Tschumi hat einmal gesagt: «Architecture is not about the conditions of design, but the design of the conditions.» Mir scheint, dass hier in den letzten 10 bis 15 Jahren vermehrt junge Büros sichtbar geworden sind, für die dieser Gedanke wieder relevant ist. Ganz im Gegensatz zu den Jahren 1980 bis 1990, als in den meisten Büros der Stadt ein konzeptioneller Anspruch eher zu vermissen war. 
Der Genfer Bauszene fehlt es manchmal am Mut zur Courage, für sich als Ort jene Radikalität zu reklamieren, die latent in ihr durchaus vorhanden wäre. Aufgrund seiner Tradition, wichtige internationale Organisationen willkommen zu heissen, ist Genf ganz zweifellos eine besondere Stadt. Genf hat ein bestimmtes intellektuelles Profil, das so keine andere Stadt der Schweiz aufweist. Im Vergleich beispielsweise zu Basel, das durch seinen internationalen Ruf in Industrie und Kunst geprägt ist, zeichnet sich Genf durch seine weltoffene politische Dimension aus.
Die Intelligenz einer ganzen Welt konzentriert sich auf diese Stadt, die dies jedoch viel zu wenig ausnutzt. Es ist an der Zeit, dass die Akteure der Baukultur – Architekten, Bauherren, Politiker und natürlich Nutzer – diese doppelte Kontextualität der Stadt, dieses permanente Oszillieren zwischen dem Lokalen und dem Globalen, zu bejahen und das geopolitische Charisma dieser Stadt mit der sie auszeich-nenden sinnlichen Radikalität zu artikulieren.

Mehr zum Prix de Genève unter prixdegeneve.archi

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