Anleitung zur Selbsterkenntnis
Unsere Welt ist so komplex, dass selbst Alltagsverrichtungen zu tiefgründigen philosophischen Herausforderungen werden. Beispielsweise der Gang zum Klo. Früher war alles klar: In öffentlichen Bauten gab es Damen- und Herren-WC in einem ausgewogenen Verhältnis – ausser im HIL an der ETH Hönggerberg, wo es zu meiner Studienzeit kaum Damen-WC gab, weil man offenbar nicht mit weiblichem Nachwuchs gerechnet hatte, oder im Kino, wo bis heute viele Frauen die Pause in der WC-Warteschlange verbringen, während ihre Begleiter Glacé essen. Item, es war überschaubar. Man wusste, was kam, und wenns nicht passte, kannte man den Schuldigen: den chauvinistischen Architekten.
Heute dagegen gibt es keine Gewissheiten mehr. Als ich die Toilette des MoMA in New York aufsuchte, geriet ich fast in eine Identitätskrise. Wer bin ich? Wohin gehe ich? Ich bin eine Frau, ja; aber wenn meine kleine Tochter auch muss, sollen wir zu den Frauen oder in die gemischte Familienzone? Ab wie vielen Mitgliedern sind wir eine Familie? Entscheide du, gemahnt die Tafel.
Es ist das «Erkenne dich selbst!» der alten Griechen, der existenzialistische Ruf zur Eigenverantwortung. Bestimme deine Identität und steh dafür ein. Erst dann darfst du aufs Klo. Und das Baby, das wickelt sich selbst.