Aufruf zur Verdichtungsrevolte
Fünf Jahre nach Revision des nationalen Raumplanungsgesetzes sind viele gute Ideen immer noch Theorie. Nicht alle Kantone sind gewillt, die Vorgaben des Bundes einzuhalten. Eine erste Zwischenbilanz ergab: Die Zweifel daran, dass die Siedlungsentwicklung von nun an mustergültig erfolgt, sterben zuletzt.
Juristen wägen gern ab und sprechen deshalb meistens mit Bedacht. Umso überraschender ist es, wenn sie plötzlich Klartext reden. Heinz Aemisegger ist ehemaliger Bundesrichter und war am nationalen Raumplanungskongress so frei: «Gemeinden, die verdichten wollen und den Support der Kantone vermissen, sollten sich direkt ans Bundesgericht wenden.» Seinen Aufruf zum demokratischen Ungehorsam hatte der Ex-Funktionär jedoch bewusst formuliert. An der Fachtagung von EspaceSuisse wurde eine Zwischenbilanz zum revidierten Raumplanungsgesetz debattiert.
Im Frühjahr 2014 nahm das Schweizer Stimmvolk die Änderungsvorlage deutlich an. Die grosse Hoffnung war damals, den Kulturlandverlust und die Zersiedelung mit diesem Urnenentscheid endlich zu stoppen sowie überflüssige Bauzonen der Landwirtschaft zurückzugeben. Das Votum des einstigen Richters blieb jedoch eine Ausnahme; die übrigen Referentinnen und Podiumsteilnehmer hielten sich in ihren Urteilen diplomatisch zurück. Allein die am Bilanzierungsanlass präsentierten Fakten waren deutlich genug.
Nicht alle Kantone sind so weit
«Haben die Kantone ihre Hausaufgaben gemacht?», fragte Monika Zumbrunn, Geschäftsführerin des Netzwerks Raumplanung. Die Antwort gab auch sie indirekt, in einer umfassenden Gegenüberstellung des revidierten Regelwerks mit den daraus abgeleiteten kantonalen Vorgaben.
Der erste Befund ist: Einige Kantone sind schlicht noch nicht so weit, und andere tun sich schwer, griffige Instrumente für die Verdichtung zu finden. Was nach der nationalen Gesetzesrevision zu tun gewesen wäre, ist an sich klar: Die Kantone hatten ihre Richtpläne so anzupassen, dass das erwartete Bevölkerungsplus das Wachstum der Siedlungsfläche nicht weiter vorantreiben soll.
Nicht überall wurden befriedigende Resultate gefunden. Deshalb hat der Bundesrat die meisten revidierten Kantonsrichtpläne nur unter der Bedingung genehmigt, dass Zusatzaufgaben zu erledigen sind: So muss der Thurgau klären, wie die Entwicklung seiner vielen Weiler die Zersiedelung nicht weiter anheizen wird.
Oder Uri: Weil die Gemeinden weiterhin über grosse, nicht benötigte Siedlungsreserven verfügen, muss die Zentralschweizer Kantonsregierung ein verbindliches Auszonungsprogramm festlegen. Doch das sind keine Einzelfälle. Für fünf Kantone hat der Bund zwischenzeitlich sogar ein Bauzonenmoratorium angeordnet (vgl. «Hü und hott in der Raumplanung»), weil diese den zeitlichen Vollzugsplan nicht einhalten konnten. Ende Mai ist die Frist zur Anpassung der kantonalen Gesetze und Planungsgrundlagen an das revidierte Bundesrecht eigentlich abgelaufen.
Keine einheitliche Praxis absehbar
Stefan Scheidegger, stellvertretender Direktor des Bundesamts für Raumentwicklung ARE, will nicht den Oberlehrer spielen und verzichtete am EspaceSuisse-Anlass auf Tadel. Stattdessen bevorzugt er eine motivierende Ansprache: «Wie die Kantone den Vollzug anpacken, ist grundsätzlich gut.» Stand heute könnten 23 Kantone einen genehmigten Richtplan vorweisen; nur Obwalden, Glarus und das Tessin nicht. Inhaltlich ergibt sich aber ein durchzogenes Bild; eine einheitliche Verdichtungspraxis wird zudem vermisst. Präsentiert werden dagegen unterschiedlichste, wenig erprobte Planungsansätze wie das übergeordnete Pooling künftiger Bauflächen.
Es gibt aber auch Vorbilder: Gerühmt wird zum Beispiel der Kanton Zürich, dank einer strengen Regelung für Neueinzonungen und dem Festsetzen starrer Siedlungsgrenzen. Gespannt blickt man auch auf das Wallis, das eine kreative Lösung zur Redimensionierung der eingezonten Flächen verfolgt. Viele Fachleute bleiben dennoch vorsichtig. Über die Siedlungsverdichtung wird weiterhin fast nur theoretisch debattiert, und der Realitätscheck im Alltag steht noch aus.
Spürbar ist: Die Ungeduld wächst. So ist der Bund darum bemüht, die Kantone auf Kurs zu halten. Streng wie nie zuvor hat er deren Vorgehen überprüft. Und auch in Zukunft soll die Aufsichtspflicht ungewohnt eng wahrgenommen werden. Einige Kantone haben über die Fortschritte zur Siedlungsverdichtung regelmässig zu berichten. Der nationalen Behörde sind aber die Hände gebunden, wenn sich die Stände nur mit einem Minimum begnügen. Vor allem beim Mehrwertausgleich kommt keine Harmonisierung zustande; dieses Verdichtungsinstrument (vgl. Kasten) blockiert die Vollzugskette derzeit am stärksten.
Minimalistische Haltung der Kantone
Das Bundesgesetz sieht vor, die öffentliche Hand am Mehrwert einer Fläche, die neu eingezont worden ist, zu beteiligen; sie darf vom Eigentümer mindestens 20 % einkassieren. Die Abgabe soll die Infrastruktur und die Siedlungsqualität verbessern respektive den Topf für Entschädigungen füllen, die bei einer Rückzonung fällig sind. «Damit wird die öffentliche Akzeptanz von baulichen Verdichtungsmassnahmen erhöht», ist Samuel Kissling, Chefjurist von EspaceSuisse, überzeugt. Nach eigenem Gutdünken dürfen die Kantone den Abgabesatz zwar auf 50 % erhöhen. Kissling präsentierte an der Tagung jedoch eine Liste, die die minimalistische Haltung der Kantone dokumentiert: Drei von vier begnügen sich mit dem Abgabesatz von 20 %. Der Kanton Baselland geht sogar so weit, seinen Gemeinden und Städten eine bedürfnis- oder standortgerechte Erhöhung zu untersagen. Ein solches Verbot ist mit dem Bundesgesetz an sich nicht kompatibel.
Wie sehr sich die Kantone nur für das eigene Tun interessieren, wurde am Kongress ebenso beispielhaft beschrieben. Mitten durch das Basler Dreispitzareal verläuft die Grenze zwischen Stadt- und Landkanton. Benachbarte Investoren sind darum plötzlich mit zwei unterschiedlichen Abgaberegeln konfrontiert. Basel-Stadt verlangt 50 % des Mehrwerts; Basel-Landschaft gibt sich mit 20 % zufrieden.
Wie am Raumplanungskongress zu vernehmen war, ist die heterogene Praxis auch ein Resultat politischer Störmanöver. Carmen Haag, Thurgauer Regierungsrätin, und Pierre Imhof, Kantonsplaner in der Waadt, bestätigten stellvertretend, wie sehr die Parlamente ambitioniertere Vorschläge jeweils zurechtgestutzt hätten.
Wer klärt die Grundsätze: die Planungsbehörde oder das Gericht?
Wie der Flächenfrass wirksam reduziert wird und wer sich dafür stark machen soll, darauf gab Bilanzierungsanlass keine eindeutigen Hinweise. Allerdings war zwischen den Voten herauszuhören, dass man von den Kantonen nicht zu viel erwarten sollte. «Rund ein Drittel rechnet weiterhin mit hohem Wachstum, obwohl das Bundesamt für Statistik die Bevölkerungsprognose zwischenzeitlich nach unten korrigierte», gab Jurist Kissling zu bedenken. Zudem stecken die Behörden immer noch in der Vorbereitungsphase. Erst die nächste Generation der kommunalen Orts- und Zonenpläne wird den Beweis erbringen müssen, ob die Siedlungsentwicklung auch in einen nachhaltigen und haushälterischen Rahmen passt.
Bis dann gilt es jedoch noch Grundsatzfragen auf übergeordneter Ebene zu klären: Sind Rückzonungen entschädigungspflichtig oder nicht? Und darf die Gemeinde einen Landbesitzer, der seine eingezonte Fläche lieber horten als überbauen will, allenfalls enteignen? In beiden Fällen sind Konflikte mit betroffenen Eigentümern absehbar. Wahrscheinlich ist, dass erst das Bundesgericht gültige Antworten finden wird.
Doch nicht alle Kongressteilnehmer möchten den Vollzug der Raumplanung an die Justiz delegieren. Roger Michlig, Regionalentwickler im Oberwallis, würde ein politisches Aushandeln der Themen bevorzugen. Und auch Lukas Bühlmann, Direktor von EspaceSuisse, möchte den Gang an die Gerichte möglichst meiden. «Das würde nur beweisen, dass die Behörden ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben.» Bühlmann ist Jurist und ebenfalls bekannt dafür, seine Aussagen mit Bedacht zu wählen. Trotzdem verdeutlichen sie, dass eine Verbesserung der bisherigen Raumplanungsbilanz noch möglich ist.
Was zur Verdichtung beitragen soll
Das revidierte nationale Raumplanungsgesetz will die Siedlungsentwicklung nach innen mit einem vielfältigen Massnahmenpaket fördern. Jeder Kanton hat in seinem Richtplan auszuweisen, ob in den nächsten 15 Jahren ein zusätzlicher Flächenbedarf zu erwarten oder eine Redimensionierung der Bauzonen möglich ist. Ergänzend dazu braucht es gesetzliche Bestimmungen, um Anreize für die Verdichtung zu schaffen. Dazu gehören unter anderem die Mobilisierung von Bauland, ein Mehrwertausgleich bei Neueinzonungen sowie das Festsetzen von minimalen Nutzungsdichten. Um überflüssige Baulandreserven rückzuzonen und wieder dem Kulturland zuzuweisen, haben die Kantone und Gemeinden zudem juristisch heikle Geschäfte zu erledigen. Das Netzwerk Raumplanung, dem Umwelt- und Fachorganisationen sowie der Bauernverband angehören, hat vor Kurzem eine Bilanz gezogen, welche Kantone bislang wie tätig geworden sind.
Der Bericht ist abrufbar unter: www.netzwerk-raumplanung.ch/raumplanung