Ay me!

Publikationsdatum
31-05-2018
Revision
31-05-2018

Wahrscheinlich war es eine romantische Anwandlung, die den Bewohner oder die Bewohnerin dieses Bauernhauses im Unterengadin geritten hat. Wenn schon eine Renovierung ansteht, warum nicht gleich die Gelegenheit beim Schopf packen und Voraus­setzungen schaffen, um dem Leben entscheidende Wendungen zu er­möglichen? Romeo und Julia haben uns gelehrt, welche Bedeutung ­einem Balkon in Fragen des Zwischenmenschlichen zukommen kann. Schlicht verputzte Wände mögen ja das Architektenherz höher schlagen lassen, das aller anderen ist eher mithilfe einer opulenteren Geste zu erobern. Während sich die Nachbarschaft über individuelle Sgraffiti Luft verschafft, gilt die Leidenschaft ­dieses Balkonbesitzers unübersehbar der Schmiedekunst. Schwanenhaft anmutig geschwungene Blätter und ein paar prall goldene Knospen umschliessen den Austritt für den Auftritt. Während die Besitzerin vielleicht an dem entscheidenden Monolog tüftelt, den sie von ihrer eisernen Wiese aus proklamieren wird, denke ich an einen Lastwagen, der den Balkon eines Tages mit sich reissen wird, wenn er die abschüssige Kurve zu eng nimmt, und halte das nicht einmal für die schlechteste Lösung. Solche Vorstellungen sind dann wohl unter «dé­formation professionelle» zu ver­buchen – ay me, ich ­Unglückliche!
 

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