Bauen nach Corona: Wie weiter?
Drei Monate Shutdown haben unübersehbar aufgezeigt, was in unserem Wohnumfeld funktioniert und was nicht. Welche Lehren ziehen wir daraus? Was braucht es, damit kleine Wohnungen und dichte Quartiere auch in Krisenzeiten lebenswert sind?
Innere Verdichtung, Suffizienz, Senkung des Wohnflächenverbrauchs: In den vergangenen Monaten haben die Schlagworte, die die Schweizer Planerinnen und Planer bisher fast unisono propagiert hatten, einen eigenartigen Klang bekommen. Während der Covid-19-Pandemie hat sich vielerorts Verunsicherung und Skepsis gegenüber dichten Siedlungen breit gemacht.
«Dichte tötet», verkündete die Schlagzeile einer Zeitung dramatisch. Und auch jene, die in bequemen Wohnungen die Entschleunigung des Shutdown genossen, hinterfragten die urbane Lebensweise: Die Debatten um Abschottung, Selbstversorgung und Autarkie beflügelten die alte Sehnsucht vieler Schweizerinnen und Schweizer nach einem Einfamilienhaus mit Garten.
Auch wenn die Siedlungsentwicklung nach innen ökologisch notwendig ist und dem mehrfach bekräftigten politischen Willen des Schweizer Stimmvolks entspricht, gilt es, die aktuelle Kritik ernst zu nehmen. Können wir aus den Mängeln der heutigen Planungs- und Baupraxis lernen?
Wohnung im Härtetest
Der Shutdown hat die Menschen zu einem Rückzug aus dem öffentlichen Raum und in die eigenen vier Wände gezwungen. Das war ein Härtetest, nicht nur für die zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern auch für die Wohnsituation.
Wenn alle Bewohnerinnen und Bewohner sich rund um die Uhr im Innern aufhalten und dort auch ungewohnte Tätigkeiten wie Homeoffice, Homeschooling, Sport und Musizieren ausüben, treten die Vorzüge und Mängel der jeweiligen Wohnung mit drastischer Klarheit zutage. Besonders deutlich zeigte sich die Notwendigkeit privater Aussenräume, halbprivater Zwischenbereiche und gemeinschaftlicher Infrastrukturen, in denen man Ruhe finden oder – unter Wahrung der nötigen physischen Distanz – menschliche Nähe ohne digitale Filter erleben kann.
Aber auch der öffentliche Raum rund um die Wohnung erfuhr eine Umdeutung. Mancherorts mussten Grünräume und Spielplätze wegen Verstössen gegen das Versammlungsverbot gesperrt werden, während anderswo tagelang gespenstische Leere gähnte. Weil viele vom öffentlichen Verkehr auf das Velo oder das Auto wechselten, waren manche Strassen mit einem Mehrverkehr konfrontiert; gleichzeitig zeigte sich, dass es dort, wo Fussgängerinnen und Fussgänger unterwegs sind, mehr Platz für die Einhaltung der Abstandsregeln braucht.
Wandel und Flexibilität
Nachdem der erste Schock vorerst überstanden ist, gilt es, diese Erfahrungen zu analysieren. Was können wir für die Planung aus den Gegebenheiten der aktuellen Pandemie für die Zukunft lernen? Wie setzt die Planungsbranche diese Lehren um unter der Voraussetzung, haushälterisch mit dem Boden umzugehen und bestehende Siedlungen zu verdichten?
Diesen Fragen widmete sich am 26. Mai 2020 der Online-Think-Tank «Dichte auf dem Prüfstand», der 16 Expertinnen und Experten aus der Schweiz, Liechtenstein, Österreich und Deutschland aus Disziplinen wie Architektur, Städtebau, Soziologie, Stadtforschung und Raumentwicklung einen Rahmen für Austausch und Diskussion bot. Veranstaltet wurde er vom Kompetenzzentrum Typologie & Planung in Architektur CCTP der Hochschule Luzern und vom Bundesamt für Wohnungswesen BWO mit der Medienpartnerschaft von TEC21 und espazium.ch.
Einig waren sich die Beteiligten in einem Punkt: Konkrete, für eine spezifische Ausnahmesituation getroffene Massnahmen – etwa die Unterteilung des öffentlichen Raums durch «Distanzhalter» – dürfen nicht automatisch zu neuen Planungsregeln erhoben werden. Vielmehr ginge es darum, den gebauten Lebensraum so zu gestalten, dass er nach Bedarf immer wieder andere Aneignungsformen ermöglicht.
Im Zentrum der Debatte stand dabei die Gestaltungs- und Handlungsmöglichkeit in Zeiten unerwarteter Ereignisse. Ein resilientes System – d.h. eines, das auf Belastungen adäquat reagieren und sich erholen kann – zeichnet sich nicht dadurch aus, dass es von vornherein für alle Eventualitäten gerüstet ist, sondern durch seine Anpassungsfähigkeit im Bedarfsfall. Ganz im Sinn von Charles Darwin: «It is not the strongest species that survive, nor the most intelligent, but the ones most responsive to change.»
Lebensqualität in der Dichte
Im Kontext von Stadtplanung und Wohnungsbau heisst das: Der gebaute Lebensraum muss auch unter sich wandelnden Bedingungen eine hohe Aufenthaltsqualität bieten, flexibel nutzbar sein und das Mobilisieren von zusätzlichen Ressourcen ermöglichen, z.B. durch räumliche Puffer. Dass dies nicht im Widerspruch zu einer hohen baulichen Dichte stehen muss, zeigt sich unter anderem an der Beliebtheit von Gründerzeitquartieren. Voraussetzung ist allerdings eine ausgeprägte Qualität der Dichte, sprich: nicht bloss möglichst viel Baumasse, sondern ein reichhaltiges und vielfältiges Angebot an räumlichen, sozialen und funktionalen Bezügen.
Eine unbestrittene Erkenntnis aus der Pandemie ist, dass stabile soziale Netze gerade in Krisenzeiten entscheidend zur Lebensqualität ihrer Mitglieder beitragen. Und wenn die Mobilität eingeschränkt ist – wie dies im Shutdown generell der Fall war, für viele Menschen aber auch im normalen Alltag zutrifft –, setzen direkte menschliche Kontakte physische Nähe und funktionierende Nachbarschaften voraus.
Die Frage lautet also nicht: Lebensqualität versus Dichte? Sondern vielmehr: Lebensqualität dank Dichte – aber wie? Die Antwort, man ahnt es schon, ist nicht trivial. Gedankliche Impulse hat der Think Tank geliefert; nun gilt es sie zu nutzen und zu vertiefen. Oder, wie die Expertinnen und Experten nach lebhaften Diskussionen feststellten: «Es braucht in Stadtplanung und Wohnungsbau kein radikales Umdenken. Was es braucht, ist radikale Reflexion.»
Denn selbst wenn die zweite Pandemie-Welle ausbleibt – eine viel bedrohlichere, längerfristige und in Zukunft einschneidendere Krise hat bereits begonnen: die Klimaerwärmung. Auch und gerade dafür braucht es tragfähige Planungs- und Baukonzepte.
Hinweis
Der Bericht ist eine Zusammenfassung des Online Think Tanks «Dichte auf dem Prüfstand» von HSLU und BWO.
Weitere Beiträge zum Thema finden Sie hier:
- Fertig Dichte?
(Zusammenfassung der Diskussion im Video)
- Dichte statt Enge?
(Videointerviews mit Doris Sfar, Leiterin Bereich Grundlagen und Information im BWO und Peter Schwehr, Professor und Leiter Kompetenzzentrum Typologie & Planung in Architektur (CCTP) an der Hochschule Luzern)