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Eine hohe Baukultur muss definiert, argumentiert, ­debattiert, eingefordert, bezahlt und ­gepflegt werden. Sie braucht Botschafterinnen und Botschafter, die mit guten Argumenten für sie einstehen. ­Welchen Beitrag leistet dieses Buch dazu?

Publikationsdatum
11-02-2022
Caspar Schärer
Architekt, Publizist und Raumplaner; Generalsekretär BSA und Co-Kurator der Biennale svizzera del territorio (ehemals: Biennale i2a)

Plötzlich war sie da, die Baukultur. Ende Januar 2018, als alle Blicke wegen des World Economic Forum auf Davos gerichtet waren, versammelte der Schweizer Innenminister Alain Berset ebendort seine europäischen Amtskolleginnen und -kollegen und proklamierte die gemeinsame «Davos Declaration» für eine «high-quality Baukultur». Der Coup war Berset und dem Bundesamt für Kultur gelungen: Ein Grossteil der Planungs­szene war von dem Vorstoss völlig überrascht, und ich muss gestehen, ich war es auch. Der Rest ist Geschichte. In den bald vier Jahren seit der «Davos Declaration» passierte enorm viel. Etliche Länder nahmen die Verpflichtung von Davos ernst und änderten ihre Baukulturpolitik oder führten überhaupt eine ein. In der Schweiz kam 2019 die Strategie Baukultur, 2020 das Davos Baukultur Quality System, und 2021 lässt sich beobachten, wie der Begriff Baukultur langsam in Gesetzestexte einsickert.

Aber halt! Was ist diese Baukultur überhaupt? Und was soll «hohe Baukultur» sein, von der in allen offi­ziellen Papieren die Rede ist, und wer ­bestimmt das? Bevor ich mich hier in weitschweifigen Definitionen verliere, verweise ich auf die Beispiele in diesem Buch: Hier zeigt sich hohe Baukultur in all ihrer herrlichen Diversität und Vitalität, ausgewählt und präsentiert von Kritikerinnen und Kritikern, die als Fachleute für ihre Argumente einstehen. Die Auswahl umfasst nicht nur architektonische Projekte, sondern auch den Tiefbau – eine folgerichtige Entscheidung, aber auch ein starker Appell, zumal Infrastrukturwerke bei baukulturellen Debatten oft ausgeblendet werden, obschon sie unsere gebaute Umwelt entscheidend mitgestalten. Über die Bewertung der Qualität hat TRACÉS-Chefredaktor Marc Frochaux einen wichtigen Debattenbeitrag zur Konkretisierung des Davos Baukultur Quality System verfasst. Ich möchte hingegen aus drei unterschiedlichen Richtungen auf das neue Politikfeld der Baukultur blicken – denn das ist Baukultur im Moment jedenfalls in erster Linie: ein Politikfeld. Zunächst ordne ich das Wortpaar «hohe Baukultur» als politisch-rechtliche Konstruk­tion ein, dann würdige ich den sozialen Wert des kulturellen Schaffens beim Planen und Bauen und stelle schliesslich die Gretchenfrage nach dem Geld.

Das Recht auf gute Qualität

Wie wohl die meisten, die sich damit beschäftigen, hatte ich zuerst meine Zweifel, ob der Begriff der «hohen Baukultur» richtig gewählt ist. Bestimmt hier nicht wieder eine Elite, wie die Welt auszu­sehen hat? Der Einwand ist berechtigt, andererseits besteht halt schon ein Unterschied zwischen der schlichten Bauproduktion und einer baukulturellen Leistung. Wenn Baukultur wie in der ­«Davos Declaration» tatsächlich breit gefasst wird – und ich unterstütze dies aus vollem Herzen –, dann braucht es erst recht eine Differenzierung. Qualität lässt sich aber nur einfordern, wenn man sich halbwegs darüber einig ist, was Qualität sein könnte. Deshalb braucht es ein Werkzeug, das dabei hilft. Ob dieses Werkzeug das vorliegende Davos Baukultur Quality System ist oder etwas anderes, spielt in diesem Zusammenhang eine untergeordnete Rolle. In diesem Buch wählten die Kritikerinnen und Kritiker die Vitruv’schen Qualitätskriterien, umgemünzt auf das 21. Jahrhundert, als Ausgangspunkt – eine leicht verständliche Versuchsanordnung, die es erlaubt, auf den harten Kern zu fokussieren: Wie lässt sich baukulturelle Qualität erkennen, benennen, darlegen?

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Es ist nämlich wichtig, dass die Botschafterinnen und Botschafter der Baukultur ausgestattet werden mit Argumenten, die jede und jeder versteht. Als solche sehe ich zunächst die Mitglieder von Gestaltungsbeiräten, auch Stadtbildkommissionen genannt. Sie sind ein zentrales Instrument der «hohen Baukultur», beraten die Politik und Verwaltung – in der Regel eine Gemeinde – und setzen sich aus verschiedenen Expertinnen und Experten zusammen. Gestaltungsbeiräte kämpfen an vorderster Front um Qualität, in einer mühsamen und aufreibenden Arbeit. Von etlichen Gestaltungsbeiräten hörte ich die Klage, dass es nur schon einen enormen Aufwand brauche, um Projekte auf das Niveau von «knapp genügend» zu hieven. Aber wir wollen ja mehr! Deshalb benötigen Gestaltungsbeiräte Rückhalt und Unterstützung – ihnen wäre sehr geholfen, wenn Politik und Gesetzgeber eine «hohe Baukultur» einfordern würden. Nicht nur ihnen, sondern allen, die sich in ihrer täglichen Arbeit für hohe Qualität in der Baukultur einsetzen.

An dieser Stelle folgt ein kurzer Ausflug in die Welt der Raumplanung: Sie produziert massenhaft Leitbilder und Strategien, doch oft zerschellen die schönen Ideen an der Klippe des Vollzugsdefizits. Wer wirklich etwas bewegen will, muss die Gesetze ändern oder sogar die Verfassung. Ein Paradebeispiel dafür ist die «Agglomeration»: Sie ist keine anerkannte Staatsebene, und doch steht das Wort «Agglomeration» im Artikel 50 der Bundesverfassung. Der Bund habe «Rücksicht zu nehmen» auf die Bedürfnisse der Berggebiete, Städte und – ja! – der Agglomerationen. Auf dem Art. 50 beruhen die Agglomerationsprogramme, inzwischen nicht mehr ganz so neuartige Planungsinstrumente, mit denen die horizontale und vertikale Zusammenarbeit neu er­funden wurde. Vor allem aber lösen die Agglomerationsprogramme milliardenschwere Investitionen aus – hauptsächlich in Infrastruktur, aber immerhin. Ein einzelnes Wort macht den Unterschied.

Es ist nun interessant zu beobachten, wie sich der Begriff der «hohen Baukultur» langsam seinen Weg in die Gesetze bahnt, in das Natur- und Heimatschutzgesetz (NHG), gar in das Raumplanungsgesetz (RPG). Noch sind die Gesetzesanpassungen nicht beschlossen, aber die Vorschläge sind da, seien sie vom Bund oder von Stakeholdern, die an Vernehmlassungen teilnehmen. Wenn «hohe Baukultur» zum gesetzlichen Auftrag wird, können sich die vollziehenden Organe nicht mehr herausreden. Sie müssen etwas dafür tun.

Baukultur als soziale Leistung

Dass eine hohe Qualität nur zu haben ist, wenn sich alle anstrengen, wird wohl kaum angezweifelt. Jedes Bauvorhaben ist ein Aufbäumen gegen den Status quo, auch der kleine Anbau an das Einfamilienhaus oder die Passerelle über den Bach. Es gibt insgesamt immer genügend plausible Gründe, etwas nicht zu tun. Allein schon die physikalischen Gesetze der Erdanziehungskraft sprechen dagegen, sich die Mühe mit dem Bauen zu machen. Auf dem langen Weg zu einem realisierten Projekt gilt es so viele Hindernisse und «Neins» zu überwinden, dass es den Rahmen dieses Texts sprengen würde, sie hier zu nennen. Eines ist jedoch klar: Es braucht ein ganzes Kollektiv an Personen, die im Sinn des Projekts handeln. Die Absicht, hohe Baukultur zu schaffen – und das zeigen die Beispiele in diesem Buch eindrücklich –, bildet einen gemeinsamen Nenner, ein gemeinsames Ziel, eine gemeinsame Ambition, hinter der sich ein Kollektiv versammeln kann.

Die Aussicht auf grossen wirtschaftlichen Gewinn kann niemals eine der­artige Kohäsionskraft erreichen – allein schon deswegen, weil dieser Gewinn in der Regel sehr ungleich verteilt ist. Abgesehen davon sprechen kulturelle Werte, gerade weil sie eben nicht monetarisiert sind, andere Aspekte unseres Lebens, unseres Menschseins an. Hinzu kommt das narrative Element, das jeder kulturellen Leistung innewohnt. Auffällig ist: Alle in diesem Buch beschriebenen Bauten und Anlagen erzählen Geschichten, und meistens nicht nur eine, sondern gleich mehrere. Das kann allerdings nur geschehen, wenn sie zuvor von Menschen mit Geschichten «aufgeladen» wurden. Das mag etwas esoterisch klingen, aber ich spüre die besondere Energie, die ein Gebäude, ein Park oder eine Brücke von hoher baukultureller Qualität ausstrahlt. Früher war diese Aura den Kirchen und offiziellen Bauten vorbehalten, heute könnte sie theoretisch überall schlummern. Kultur ist eine urmenschliche Leistung, und im Fall der Baukultur ist es ­sogar eine soziale, gesellschaftliche ­Leistung – nicht nur von jenen, die sie schaffen, sondern vor allem auch für alle anderen, die dann damit leben.

Dialog und Kooperation

Nach dieser vielleicht etwas schwärmerischen Lobpreisung des baukulturellen Kollektivs gelange ich zurück auf den harten Boden der Tatsachen: Bauen hat immer auch mit Geld zu tun, mit ausserordentlich viel Geld; Bauen ist nicht nur ein signifikanter Wirtschaftszweig, sondern sein Produkt – das Bauwerk, wie klein oder gross es auch sein mag – repräsentiert einen Vermögenswert. Und nicht nur die Bauwerke haben einen Wert, sondern natürlich auch der Boden, auf dem sie stehen. Die Eigenschaft, beträchtliche Wertanlagen in sich aufzunehmen, kombiniert mit der Aussicht auf eine bedeutende Steigerung ebendieses Werts (Boden lässt sich immer noch nicht vermehren …), führt dazu, dass Bauen mehr und mehr ein Finanzgeschäft wird, ein Bilanzposten und eine Transaktion.

Die Pensionsansprüche Hunderttausender stecken in Immobilien, in denen wir unter Umständen sogar noch selber wohnen. Anteile an grossen Anlagepaketen werden gehandelt wie andere Dinge, daran ist nichts Anrüchiges. Die Finan­zialisierung des Immobilienmarkts führt aber zu einer Abstraktion des Eigent­lichen: Das Haus, die Menschen, die es planen und errichten, und die Menschen, die anschliessend darin leben, verschwinden vollständig, sind nicht mehr sichtbar. Was steckt in einem Immobi­lienfonds? In der Regel wissen wir es nicht. Problematisch wird es dann, wenn dieses Verschwinden des Menschen, diese Anonymität auf das Bauen selbst zurückfällt – wenn die Akteurinnen und Akteure, die Botschafterinnen und Botschafter der Baukultur keine Ansprechpersonen mehr finden. Die grosse Frage für die Zukunft dürfte wohl sein, wie das anlagesuchende Kapital und dessen unterschiedliche Ausprägungen überhaupt erreicht werden können für baukulturelle Themen. Kulturelles Wirken ist auf Dialog und Kooperation angewiesen, und kulturloses Bauen können wir uns schlicht nicht mehr leisten.

Dieser Artikel ist erschienen im Sonderheft «Baukultur: Qualität und Kritik». Bestellen Sie jetzt!

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