«Das Stadt­kli­ma ist ein wich­ti­ger Be­stand­teil der Stadt­ent­wick­lung»

Wie bleiben Städte auch in Zeiten des Klimawandels als Lebensraum attraktiv? Für die Zürcher Stadtplanerin Dunja Kovári-Binggeli ist das eine «Querschnittsaufgabe». Was sie damit meint und weshalb Wasserspiele wie Klimaanlagen wirken, erklärt sie im Interview.

Publikationsdatum
16-09-2020

SIA: Frau Kovári-Binggeli, was verstehen Sie unter «Stadt­klima»?

Dunja Kovári-Binggeli: Stadtklima bedeutet sehr vereinfacht eine hohe Aufenthaltsqua­lität: eine vielseitige Vegetation, erträgliche Temperaturen, eine ange­messene Luftqualität und einen attraktiven öffentlichen Raum für Begegnung und Interaktion.

SIA: Ab wann ist eine Siedlung im architektonischen Sinn eine Stadt?

Dunja Kovári-Binggeli: Das hängt weniger mit der Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner zusammen als mit dem Verhalten. Wesentliche Faktoren sind das Konsumations- und Mobilitätsverhalten sowie der Lebens- und Wohnstil. In der Schweiz gibt es starke Unterschiede zwischen städtisch-urbanem Verhalten und dem Verhalten in Agglomerationen.

SIA: Wie äussern sich diese Unter­schiede?

Dunja Kovári-Binggeli: Städte und Gemeinden mit einem hohen Einfamilienhausanteil etwa sind meist stark auf den motorisierten Individual­verkehr ausgerichtet und nach innen orientiert. Überspitzt formuliert: In jedem Garten steht ein Trampolin, in jedem Keller eine Sauna oder Playstation. Die Zentren sind vom Durchgangsverkehr geprägt. In den Städten hingegen treffen sich die Kinder auf den Spielplätzen und die Leute in Parks, auf Plätzen oder in Restaurants. Orte für Begegnung spielen eine stärkere Rolle. Das macht die Urbanität aus.

SIA: Was ist in der Stadtplanung in Bezug auf das Klima in den letzten Jahrzehnten falsch gelaufen?

Dunja Kovári-Binggeli: Festzustellen ist eine Fokussierung auf den motorisierten Individualverkehr. Gleichzeitig ist der öffentliche Raum so stark verdrängt worden, dass er heute in weiten Teilen praktisch inexistent ist. Le Corbusier hat 1933 die Sonne, den öffentlichen Raum, die Bäume, den Beton und Stahl – in dieser Ordnung und Hierar­chie – als die Elemente des modernen Städtebaus definiert. Beton und Stahl, oder eben der Asphalt, haben überhandgenommen. Was in den letzten Jahrzehnten gefehlt hat, ist auch der Gestaltungswille. Man hat Areale isoliert entwickelt. Das Gesamtbild, auch der Kitt, der alles verbindet, wurde vernachlässigt.

SIA: Was heisst für Sie öffentlicher Raum?

Dunja Kovári-Binggeli: Es ist Raum für Aufenthalt, Begegnung, Bewegung und Interaktion. Zugänglichkeit und Adaptierbarkeit sind zentral. Der Sechseläutenplatz in Zürich ist ein interessantes Beispiel. Er hat grosse Qualitäten, vor allem in den heissen Sommermonaten, aber auch augenfällige Schwächen.

SIA: Muss man deshalb zukünftig auf den Bau von grossen Plätzen verzichten?

Dunja Kovári-Binggeli: Auf keinen Fall! Es gibt aber durchaus Potenzial bei der Gestaltung solcher Stadtplätze. Weniger Versiegelung, mehr und ausreichend Platz für Bäume oder aber Wasser als zentrales Element. Verstäubungsanlagen haben zusammen mit dem Wind einen kühlenden Effekt – fast wie eine Klimaanlage im öffentlichen Raum.

SIA: Sie bezeichnen das Stadtklima als «Querschnittsaufgabe». Wie meinen Sie damit?

Dunja Kovári-Binggeli: Das Stadtklima muss integraler Bestandteil der Stadt­entwicklung sein. Das Zusammenspiel zwischen Planung und einem klimaangepassten Städtebau ist entscheidend für die Wirkung. Man kann über die Anordnung der Gebäude mit zusätzlichem Grün oder mit der Entsiegelung von Strassen, Plätzen und Innenhöfen viel zu einem guten Stadtklima beitragen. Bei sa_partners haben wir ein solches Stadtentwicklungskonzept für Rheinfelden AG erarbeitet. Werden ein Areal oder eine Verkehrsinfrastruktur geplant, gibt es bereits auf übergeordneter Ebene klare Vorgaben.

SIA: Sie haben einen Ansatz zur posi­tiven Entwicklung des Stadtklimas entwickelt, der die Elemente Landschaft, Stadtklima, Mobilität, Innenentwicklung und Städtebau beinhaltet. Können Sie das erklären?

Dunja Kovári-Binggeli: Bezüglich Stadtklima bestehen viele Synergien und Wechselwirkungen zwischen den unterschiedlichen Disziplinen. Ein Beispiel: In Altstetten hat die Stadt Zürich Teile des Trassees der Limmattalbahn begrünt. Oder ein anderes: Die Klimaanalyse für den Kanton Zürich zeigt, dass die Industrie- und Gewerbegebiete buchstäbliche Hitzeinseln sind. Wenn wir diese Hitzeinseln «entschärfen», erzielen wir dank der grossen Fläche auch eine grosse Wirkung. Das heisst beispielsweise, die Gebäud so anzuordnen, dass der Kaltluftstrom nicht gehemmt wird; Re­tentionsflächen zu schaffen, um die Kanalisation zu entlasten oder Dächer und Aussenräume naturnah zu gestalten.

SIA: Und wo soll man anfangen?

Dunja Kovári-Binggeli: In allen Bereichen. Bei sa_partners haben wir den Ansatz der drei «A» entwickelt. Das erste «A» steht für «Aktiv initiieren»: Eine Stadt geht aktiv an ein Projekt heran. Das zweite «A» bedeutet «Anreichern»: Gemeinden unterstützen und beraten beispielsweise Bauherrschaften bei Projekten. Dort ist ein sehr grosser Mehrwert zu erwarten. Das dritte «A» steht für «Animieren»: Man versucht, Dritte für neue Massnahmen zu motivieren. Das geschieht heute oft über Onlineplattformen wie beispielsweise «Nextzürich». Wir nennen das «hybride Partizipation». Das Internet wird als Anstoss genutzt, um Leute abzu­holen und zu begeistern. Danach muss man die Leute wieder «offline», das heisst in den physischen Raum bringen, damit sie mithelfen, die Projekte umzusetzen.

SIA: Welche Rolle spielt die Wirtschaft bei der Entwicklung eines positiven Stadtklimas?

Dunja Kovári-Binggeli: Sie ist ein sehr wichtiger Partner. Es gibt viele gute Gründe, um sich für das Stadtklima ein­zusetzen. Einer der wichtigsten ist der ökonomische Benefit. Inves­titionen in grüne Technologien eröffnen der Wirtschaft neue Möglichkeiten. Die Wirtschaft kann der Politik helfen, mehr Mut zu zeigen, nicht in Vierjahresperioden zu denken und auch nicht innerhalb kommunaler Grenzen.

SIA: Wer ein Areal neu bebaut, kann den Faktor Klima von Anfang an berücksichtigen. Was kann man in stark überbauten Gebieten noch bewirken?

Dunja Kovári-Binggeli: Veränderungen im Bestand sind komplexer. Man kann aber beispielsweise Innenhöfe ent­sie­geln, die viel Hitze speichern. Grenzabstände für mehr Grün aufheben oder den Strassenraum neu denken, um grosskronige Bäume zu pflanzen, was enorme positive Effekte auf das Raum­klima hat. Auch mit der Materialwahl der Fassaden kann man einiges erreichen.

SIA: Wie viel Widerstand spüren Sie, wenn Bäume in Innenhöfen gepflanzt werden sollen?

Dunja Kovári-Binggeli: Der Widerstand ist da – und nicht gering. Ein Beispiel: Ein Parkplatz in einem Innenhof im Zürcher Seefeld kostet pro Monat 300 Franken. Wenn ich da Bäume pflanzen will, ist der Liegenschaftseigentümer wahrscheinlich nicht begeistert. Hier braucht es gesamtstädtisch neuartige Lösungen für den ruhenden Verkehr
und komplett neue Anreizsysteme.

SIA: Auf welche Szenarien müssen sich Bewohnerinnen und Bewohner von urbanen Gegenden in den nächsten zwanzig Jahren einstellen?

Dunja Kovári-Binggeli: Wenn wir nichts unternehmen, dann gehören Hitze, Trockenheit, Veränderung der Vegetation, Starkniederschläge, Überschwemmungen und Luftbelastung dazu. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir das Blatt noch wenden können. Ein gutes Stadtklima ist im Interesse aller – und dass es an der Zeit ist, etwas zu tun, haben mittlerweile viele Menschen erkannt.

Tagung «Low-Tech | No-Tech 2020»

Am 12. November 2020 findet die Low-Tech | No-Tech-Tagung zum Thema «Potenziale im Klimawandel» statt. Sie wird von den SIA-Berufsgruppen Architektur und Technik organisiert. Anmeldung für die Live-Übertragung: www.sia.ch/tech

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