De­ko­lo­nia­le Ar­chi­tek­tur in Süd­asi­en

Die Frage, ob die Architekturmoderne in einigen Teilen der Welt nicht eher dem kolonialen Einfluss als dem emanzipatorischen Drang nach Unabhängigkeit geschuldet ist, wurde noch nicht abschliessend beantwortet. Aktuell beschäftigt sich eine Ausstellung im Museum of Modern Art in New York damit.

Publikationsdatum
06-04-2022

Die Ausstellung konzentriert sich auf ein Gebiet, dessen Dekolonisation nicht ohne Folgen war. Der indische Subkontinent, bis 1950 unter britischer Herrschaft, brachte nach heftigen Auseinandersetzungen sechs unabhängige Staaten hervor. Die Ausstellung im MoMA geht von der Annahme aus, dass die Architektur dieser immer noch sehr gegensätzlichen Länder dem gleichen sozioökonomischen Ökosystem entspringt und sie daher gemeinsam betrachtet werden können. Die Ausstellung wagt sich an die Rekonstruktion der geografischen Einheit Britisch-Indiens, jedoch weniger, um ihr Erbe zu würdigen, als um darauf hinzuweisen, dass die Emanzipation dieser Völker zeitgleich und unter den gleichen Umständen verlief.

Eine neue Sichtweise

Und so stellt die Ausstellung von Martino Stierli und Anoma Pieris der von einem westlichen Einfluss ausgehenden Sichtweise (Le Corbusier, Kahn) eine neue Auslegung gegenüber. Sie untersucht die Umsetzung der architektonischen Moderne in spezifischen historischen Kontexten und durchleuchtet ihre Blütezeit in Südasien, wobei der Fokus auf der Rezeption und der Umsetzung des modernen Programms liegt und nicht auf dessen Ursprung und Verbreitung.

Das moderne Projekt wird in Hinblick auf die Aneignung und Anpassung an einen gegebenen Kontext und an eine lokale Wirtschaft erforscht und nicht aus der Perspektive des Entwurfs, der weitgehend von westlichen Schulen oder Meistern geprägt wurde. Viele Projekte werden aufgrund ihrer einzigartigen Form der Hybridität gezeigt, bei der die auf Mechanisierung und Standardisierung basierende Bauweise auf eine traditionelle Technik mit manueller Fertigung trifft.

Die auf den Bilderbögen ersichtlichen modernen Baustellen mit Bauarbeiterinnen im Sari, die in geflochtenen Körben Zement transportieren, werden nicht als Standardmethode oder mangelhafte Umsetzung verstanden, sondern als Form der Aneignung und letztlich als baukulturelle Adaption eines konstruktiven Modells. Es wird deutlich, dass diese Anpassungen Projekte ermöglicht haben, die in den übersättigten Industrieländern nicht hätten umgesetzt werden können – nur schon in Anbetracht des Umfangs einiger Projekte. Die Entwicklung ganzer Städte ex nihilo wie in Chandigarh oder Brasilia wäre ausserhalb der für Entwicklungsgesellschaften charakteristischen Nationenbildung durch die Architektur und die Stadtplanung kaum denkbar gewesen. Dies war nur möglich aufgrund des bewussten Entscheids, die moderne Architektur als Werkzeug und Treiber des politischen Emanzipations- und Entwicklungsprozesses einzusetzen.

Ost statt West

Es ist teilweise jedoch schwierig festzumachen, was dem westlichen Einfluss und was dem emanzipatorischen Bestreben der Nationenbildung zuzuschreiben ist – wie etwa im Fall von Musharraf Islam, dem bengalischen Vorzeigearchitekten, der sein Handwerk bei Louis Kahn gelernt hatte und in Joypurat eine Reihe von Gebäuden aus Kalkmörtel errichtete, einem Material, das er anstelle des für das Meisterwerk seines Lehrers charakteristischen Sichtbetons verwendete. Oder bei der von Geoffrey Bawa und Ulrik Plesner entworfenen Montessori-Schule in Colombo, Sri Lanka, deren ungewöhnlich geschwungene Formen von ihrem Bestreben zeugen, sich von den Typologien des kolonialen Modernismus loszulösen und sich statt von den alten westlichen Lehrern von asiatischen Modernisten wie Kenzo Tange beeinflussen zu lassen.

Mit einer aussergewöhnlichen dokumentarischen Dichte schafft es Stierlis und PierisAusstellung, das Thema der dekolonialen Moderne in die mit Sicherheit teilweise widersprüchliche Dynamik dieser Zeit einzubetten: Einerseits eine beschleunigte Industrialisierung, die im Westen ein Tempo und ein Volumen von unvorstellbarem Ausmass erreichte und andererseits ein Bruch als Folge von alternativen, von Tradition und dem Ideal der Autosuffizienz geprägten Ansätzen. Nehru versus Ghandi – dem Westen folgen und ihn übertreffen, oder aber einen anderen Weg suchen. Das Dilemma bestand unbestreitbar und trotzdem kommen wir nicht umher festzustellen, dass der Entscheid meist zugunsten einer beschleunigten Industrialisierung fiel.

Mit dieser neuen, umfassenden Ausstellung hinterfragt das MoMA das koloniale Erbe und seinen Einfluss auf die globale Architekturgeschichte. Und es legt eine anglo-amerikanische Offenheit an den Tag, fernab der beispielsweise im deutschsprachigen Raum angespannten Stimmung aufgrund der mutmasslichen Bedrohung durch den fälschlicherweise als «Wokismus» bezeichneten Revisionismus. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass eine der wichtigsten Ausstellungen an der ETH Zürich über den Städtebau als Waffe «Discreet Violence. Architecture and the French War in Algeria» von Samia Henni aus dem Jahr 2017 noch immer nicht in dem Land gezeigt wurde, das am meisten davon profitieren würde, um das Trauma des Kolonialkriegs in Algerien zu überwinden.

«The Project of Independence: Architectures of Decolonization in South Asia, 1947– 1985» im Museum of Modern Art MoMA in New York läuft noch bis zum 2. Juli.

 

Weitere Informationen: moma.org

Verwandte Beiträge