«Die Ge­stal­tung ver­blei­ben­der Flä­chen»

Tiefgreifende gesellschaftliche Entwicklungen machen Veränderungen in der Landschaftsplanung nötig. Der Landschaftsarchitekt Günther Vogt ­befasst sich mit Geschichte, Gegenwart und Zukunft von ­Stadtlandschaften, ihrer Wandelbarkeit und ihren Grenzen.

Publikationsdatum
16-10-2020

Landschaft ist für den Landschaftsarchitekten Günther Vogt etwas Dynamisches, sich unablässig Wandelndes. Sie offenbart Wirklichkeiten, die die Grenzen, mit denen wir uns normalerweise befassen, selbstverständlich infrage stellen. Als Ganzes gesehen umfasst diese Realität eine zunehmend bedeutende Disziplin, die über die üblichen Massstäbe der Landschaftsgestaltung sowie die trennenden Aspekte zwischen Natur und Kultur hinausgeht.
 

TEC21: Aus Landschaftselementen gingen natio­nale Identitäten hervor und natura­listische Mythen. So hört man immer wieder, dass die Grenzen der Schweiz «ihren natürlichen Grenzen entsprechen» – den Seen, Flüssen und Bergen.

Günther Vogt: Ja, Elias Canetti schrieb über diese Macht des Walds, des Wassers, der Landschaftselemente bei der Identitätsbildung.1 An den Landesausstellungen im 20. Jahrhundert und bis zur Expo.02 mit ihren Bühnen und zahlreichen Flaggen wurden die Schweizer als das Volk inszeniert, das Herr der Lüfte ist, Talhänge, Berge und Seen erobert hat. Im Gegensatz dazu liegt der Ursprung der Deutschen angeblich in den Wäldern … Das heisst aber nicht, dass Landschaften etwas mit politischen Grenzen zu tun haben. Einer unserer Studenten hat beispielsweise die Alpenkonvention2 untersucht. Diese folgt zwar administrativen Grenzen, lässt aber landschaftliche Strukturen ausser Acht, und ihre Grenzen laufen teils mitten durch ein Maisfeld oder ein Waldstück. Bei unseren Projekten und im Unterrichten verfolgen wir einen anderen Ansatz. Der Fokus liegt auf dem Zusammentreffen unterschiedlicher Landschaften an einem Ort. So grenzt die Stadt Wien an den Raum, den die 1991 unterzeichnete Alpenkonventionumfasst, fällt aber aufgrund ihres internationalen Status nicht unter die Konvention. Dabei vereint sie im Nahtbereich zwischen Alpen, Karpaten und Pannonischer Tiefebene drei geologische Landschaften. Die Frage nach der Landschaftsgrenze stellt sich überall.

TEC21: In Ihrem Buch «Mutation und Morphose» sind Landschaften frei von Grenzen. Es gibt Karten mit den Wanderungen von Tieren und Tierherden sowie Pilgerwegen. Der Alpenraum wird als Landschafts­phänomen betrachtet, ohne die existierenden politischen Ländergrenzen anzusprechen.

Günther Vogt: Die Alpen im Zentrum des geografischen Europas sind seit Jahren wichtig in unserer Forschung. Wir möchten zeigen, dass sie keine Barriere, sondern eine einende, verbindende Kulturlandschaft sind – ein wenig wie der Central Park für New York.

Die seit Urzeiten durch Europa stattfindenden Pilgerreisen und Wanderungen von Tieren und Tierherden sind verbunden mit einer greifbaren landschaftlichen Realität. Bauern und Hirten nutzen seit Generationen oft dieselben Pfade – und Pilger seit Jahrhunderten die gleichen, bis heute sichtbaren Routen. Eine unserer Kolleginnen wohnt in Zürich am Jakobsweg und sieht täglich Pilgerinnen und Pilger vorbeiziehen. Sie untersuchte die religiösen Landschaften und ihre Kartierung und machte die Dichte an Klöstern sichtbar. Es existiert ein Netz, das die europäische Landschaft mit Punkten von kulturprägender Bedeutung versieht und sowohl Natur wie Kultur oder beides verbindet.

Das vollständige Interview finden Sie in TEC21 31/2020 «Landschaft im Umbruch».

TEC21: Der Tourismus hat die Identität der Landschaften in Europa geprägt. Im Zuge der Emissionsbegrenzung – und jüngst der Pandemie – wird er infrage gestellt.

Günther Vogt: Man muss den Massentourismus von kulturtouristischen Reisen mit intellektuellem Anspruch unterscheiden, die in der Schweiz mit der Entdeckung der Bergbevölkerung durch die Briten Ende des 18. Jahrhunderts begannen. Die Alpen sind eine britische Idee. Zwischenzeitlich ist der Tourismus zu einem der weltweit grössten Industriezweige geworden. Seit den 1980er-Jahren hat er sich vervier- oder verfünffacht. Der Inlandtourismus hingegen nimmt nicht zu und ist nach wie vor teuer. Wird die Coronakrise dies ändern?

In der Schweiz ist alles so nah: Ab Zürich gelangen Touristen und Bevölkerung in wenigen Stunden in die Täler des Toggenburgs und sogar auf einen Gletscher. Dies sind kostbare öffent­liche Räume, die niemand entworfen hat. Und sie sind so nah, dass man sich auch fragt, warum wir uns derart anstrengen, in Städten urbane Park­anlagen zu schaffen.

TEC21: Was wäre die Aufgabe der Landschaftsarchitekten?

Günther Vogt: Sie sollten sich vermehrt den öffentlichen Räumen widmen, die wir im Alltag nutzen: die Stras­sen und die Plätze, die weder gut durchdacht noch gestaltet sind, da niemand für sie verantwortlich ist – weder Planer noch Architektinnen noch Mobilitätsingenieure. Kürzlich gewannen wir mit Herzog & de Meuron einen Wettbewerb für die Neugestaltung der Hafenregion Hamburg. Bemerkenswert war, dass man uns bat, die Strassenzüge als öffentliche Räume miteinzubeziehen. Landschaftsarchitekten müssen da richtige Bäume pflanzen können, nicht diese Büsche und Blumen aus Gartencentern. Heute betreiben wir anstelle von Landschaftsarchitektur nur noch Instant Gardening.

TEC21: Vor einigen Jahren arbeitete das ETH-Studio Basel für die Schrift «Achtung: die Landschaft!» mit Studierenden der ETH Zürich zusammen. Sie schlugen vor, die Zersiedelung durch landschaftsspezifische Regeln zu begrenzen und anstelle des bebauten den nicht bebauten Raum zum Ausgangspunkt der Projektplanung zu machen.

Günther Vogt: Die Idee war einfach: Die Studierenden sollten nicht von Gebäuden, sondern von der Landschaft ausgehen. Zwischen den Schweizer Städten ist eine Art zusammenhängende Siedlungsstruktur auszu­machen. Daneben gibt es eine Form der Bebauung, die grösstenteils ausserhalb der Bauzone in die Landschaft gesetzt wird. Das sind Gewächshäuser, Landwirtschaftsbauten, Infrastrukturbauwerke usw. Die Planerinnen und Planer sollten sich zukünftig mehr auf dieses Territorium konzentrieren.

Manche Städte beginnen die früheren städte­bau­lichen Planungsmethoden ernsthaft zu hinterfragen. Ging es bisher um die Gestaltung der verbleibenden Flächen, so wurden die Landschaftsarchitekten üblicherweise als Letzte in den Prozess eingebunden – nach Stadtplanerinnen und Architekten. Mit den Architekturbüros OMA und Laboratorio Permanente gewannen wir einen Wettbewerb um einen Masterplan in Mailand. Die Vorgabe war, auf einem ersten Gelände 100 % öffent­lichen Raum zu schaffen. Auf einer zweiten Fläche sollte er zu 60 % öffentlich sein und die verbleibenden 40 % mindestens zu einem Drittel bepflanzt werden. Das ist interessant, vor allem für Projekte dieser Grössenordnung.

TEC21: Wenn wir von so riesigen Massstäben sprechen: Sie interessieren sich für die metropolitanen Grüngürtel.

Günther Vogt: Im Zuge des Projekts Rectory Farm befassen wir uns mit dem Green Belt von London, einem der grössten weltweit. Es ist ein gemeinschaftlich genutzter, jedoch ungeschützter Raum. Der Grüngürtel ist ein interessantes Konzept, doch jede Stadt hat ihre Geschichte, was den Erhalt betrifft. So kam es in Paris zur Transformation eines Walds, in den man allmählich englische Gärten sowie Sport- und Freizeitanlagen integrierte.

Der Grüngürtel wird den Interessen der jeweiligen Epoche angepasst. Heute befinden sich dort Museen, Skulpturen sowie die Stiftung Louis Vuitton. Er kann aber auch, wenn er nicht weiter überbaut wird, der Stadtkühlung dienen. Vor zwei Jahren führte eine Hitzewelle zu Hunderten Toten in Paris, da sich das Zentrum zu stark auf­heizte. Vor der Zeit Haussmanns war die Stadt eine Art Labyrinth, durch das man dann Strassenzüge wie den Boulevard Haussmann trieb. Heute brauchen wir in Städten grosse Achsen, damit der Wind passieren kann. In Paris könnte man beispielsweise den Bois de Vincennes und den Bois de Boulogne verbinden. Wir müssen in diesen Grössenordnungen denken.

TEC21: Sie werden mit Christophe Girot und Teresa GaliIzard an der ETH Zürich den neuen Masterstudiengang für Landschaftsarchitektur leiten. Was sind Ihre Pläne?

Günther Vogt: Primär geht es um Massstabsfragen. Wir bearbeiten nicht einzelne Parzellen, sondern kümmern uns um Stadtlandschaften. Ein weiteres Problem ist, Dozierende zu finden mit umfassenden, unabdingbaren Pflanzenkenntnissen. Während des Studiengangs sollen diese in einem «Grundkurs» vermittelt sowie auch bestimmte klassische Entwurfsmethoden vorgestellt werden, die die Studierenden nicht mehr kennen, wie Transparency von Colin Rowe und Robert Slutzky oder den morphologischen Kasten von Zwicky. Es geht uns also neben der Vermittlung naturwissenschaftlicher Kenntnisse auch um das Lehren umfassender entwerferischer Kompetenzen. Der Landschaftsarchitekt operiert zukünftig vermehrt an dieser Schnittstelle.

Der Artikel «Les Frontières du Paysage» ist in der ungekürzten Originalfassung in TRACÉS 11/2020 erschienen. Übersetzung aus dem Französischen: Zieltext, Zollikon

Anmerkungen

1 Elias Canetti, Masse und Macht, Hamburg 1960.

2 Die Alpenkonvention (1991) ist das erste inter­nationale Abkommen zum Schutz einer Bergregion. Acht Staaten ratifizieren sie. alpconv.org

3 Simon Schama, Landscape and Memory, New York 1995.

4 Elinor Ostrom, Governing the Commons: The Evolution of Institutions for Collective Action, ­Cambridge University Press, 1990.

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