Gross­flä­chi­ge Ver­gol­dung

Entwicklungsgebiete Zürich: Durchmischung und Belebung

Für eine lebendige Stadt ist die Durchmischung von Nutzungsarten und Bevölkerungskreisen entscheidend. Dies ist zwar seit geraumer Zeit bekannt, doch in Zürich klaffen Theorie und Praxis noch immer weit auseinander – es fehlen verbindliche Regelwerke.

Publikationsdatum
02-01-2015
Revision
18-10-2015

In ihrer berühmt gewordenen Rede von 1988 postulierte Stadträtin Ursula Koch, die Stadt «als öffentlichen Begegnungsraum zu ver­stehen, sie nicht länger bloss als Kulisse zu gebrauchen». Ein Vierteljahrhundert später definiert der Zürcher Stadtrat in seiner räumlichen Entwicklungsstrategie den Erfolgsfaktor «Erlebbare Offenheit», womit im Grund genommen das Gleiche gemeint ist. Weiterhin strebt auch er den von Koch gefor­derten «Abschied vom Monokulturdenken» an, bei dem neben der Durchmischung der Nutzung nun allerdings explizit auch die soziale Durchmischung erwähnt wird. 

Dass diese beiden Ziele – Durchmischung und belebter öffentlicher Raum – in 25 Jahren die gleichen geblieben sind, überrascht wenig. Für eine gut funk­tionierende Stadt sind sie entscheidend. Aber wie realistisch ist ihre Umsetzung? Welche Vollzugsinstrumente stehen zur Verfügung, und wo stehen wir heute 

Sozialer Wohnungsbau unter Druck

Geändert hat sich seit 1988 ein wesentlicher Punkt: Forderte Koch noch rein qualitative Verbesserungen, ist die Stadt seit fast zwanzig Jahren wieder im Bau. Seit 2002 wurden 15 400 neue Wohnungen bewilligt, 4800 sind in Planung, weitere 7500 dürften gemäss der Immobilienberatungsfirma Wüest & Partner in den Entwicklungsgebieten entstehen.1 Anfang 2014 wohnten erstmals seit 1973 wieder mehr als 400 000 Menschen in der Stadt; bis 2030 sollen rund 40 000 hinzukommen.

Die Umsetzung einer guten Durchmischung ist damit nicht einfacher geworden – im Gegenteil: Die enorme Nachfrage nach Wohnraum wird von einem ebenso grossen marktwirtschaftlichen Druck begleitet. Das wirksamste Mittel gegen eine flächendeckende Vergoldung ist ein hoher Anteil an gemeinnützigen Wohnungen, in Zürich beträgt er ein Viertel des Bestands.

Mit den bisherigen Neubauten konnte er nach Be­obach­tungen der Zürcher Wohnbaugenossenschaften aber bestenfalls knapp gehalten werden. Die «Seefeldisierung», die vor rund 30 Jahren ihren Anfang nahm, hat längst die übrigen Stadtquartiere erfasst und dabei massiv an Tempo zugelegt. Spitzenreiter ist der Kreis 5, wo die Preise für Mietwohnungen auf dem freien Markt zwischen 2001 und 2013 um 59 % gestiegen sind.2 Gefolgt wird er vom Kreis 4, bis dato eher bekannt für sein verruchtes Image. Die beiden Quartiere hinter dem Hauptbahnhof waren zu Kochs Zeiten noch Standort der offenen Drogenszene. Heute gilt das Gleisfeld als Zürichs neuer Fluss, an dem man gern wohnen möchte.

Unter Zürichs Entwicklungsgebieten3 ist die Europaallee damit gleich in mehrfacher Hinsicht das Filetstück. Gleichzeitig ist das lang gezogene Grundstück zwischen Hauptbahnhof und Langstrasse mit 78 000 m2 eines der beiden grössten städtischen Entwicklungsgebiete – neben dem Zollfreilager – in Privatbesitz. Noch bis zur Bewilligung des Gestaltungsplans 2008 hatten die SBB hier neben einer Mischnutzung auch eine soziale Durchmischung vorge­sehen.

Laut Andreas Steiger, Leiter Europaallee bei SBB Immobilien, scheiterte dieses Vorhaben jedoch schliesslich an dem von den Genossenschaften anvisierten hohen Wohn­anteil von rund 90 %, der mit der hohen Dichte und den damit verbundenen Lichtverhältnissen nicht vereinbar gewesen sei. Allerdings räumt er ein, dass auch die Ertragskomponente eine Rolle gespielt hat.

Andreas Wirz, Vorstandsmitglied des Schweizerischen Verbands für Wohnungswesen (SVW Zürich), bestätigt zwar, dass Bedenken gegenüber einer allzu hybriden Nutzung im gleichen Haus bestanden hätten. Gescheitert sei das Vorhaben aber vor allem an der Mietpreisvorstellungen der SBB, die mit einem Ansatz von jährlich 345 Fr./m2 anderthalbmal so hoch gewesen seien als das, was die Genossenschaften hätten zahlen können. Die Wohnungen liegen nun alle im Hochpreissegment.

Carte blanche für Entwickler  

Das Beispiel Europaallee ist für die Stadtplanung des beginnenden Jahrtausends insofern typisch, als die Stadt das Gebiet zwar als wichtiges Entwicklungsgebiet klassifizierte, für den Gestaltungsplan aber kaum Auflagen machte. Dieser soll lediglich einen «Mehrwert für die Öffentlichkeit» generieren. Als ein «Ihr könnt machen was, ihr wollt» beschreibt Wirz denn auch die Planung.

Bei den SBB tönt es nicht viel anders: Als einzige Restriktion nennt Steiger die Auflage, Detailhandel und Gastronomie mehrheitlich nicht in den ­Ober- oder Untergeschossen unterzubringen: «Das ­sollte verhindern, dass eine Shoppingmall entsteht.» Ein Grund für die mangelnden Vorgaben seitens der Stadt könnte die damals noch fehlende Erfahrung der öffentlichen Hand mit solchen Projekten sein.

Darauf weisen nachträgliche Korrekturen hin: Auf dem aktuell von den SBB beplanten Areal Zollstrasse vis-à-vis des Gleisfelds ist ein Anteil an gemeinnützigen Wohnungen von 40 % geplant. Über diesen Entscheid freut sich Wirz zwar, da es sich dabei jedoch um lediglich rund 60 Genossenschaftswohnungen handelt, sieht er das Projekt in ­erster Linie als «Feigenblatt». Tatsache ist, dass die Stadt die Bewil­ligung des Gestaltungsplans hier von einem 33 %-Anteil an genossenschaftlichem Wohnen abhängig ­gemacht hatte. 

Begünstigt wurde dieses Vorgehen durch die überwältigende Annahme der ­Volks­initiative «Bezahlbare Wohnungen für Zürich» im ­November 2011. Bis 2050 soll der Anteil gemeinnütziger Wohnungen nun schrittweise auf ein Drittel erhöht werden. Ob das rea­listisch ist, scheint derzeit weniger relevant, als dass eine Zielsetzung als Bezugsgrösse definiert wurde.

Wie die öffentliche Hand den 33 %-Anteil an gemeinnützigen Wohnungen einfordern kann, ist allerdings noch nicht geregelt – ebenso wenig wie die Anforderungen an ­kooperative Planungen, wie sie in den meisten Entwicklungsgebieten bereits zur Anwendung gelangen. Der Ende 2013 veröffentlichte Entwurf für die Teilrevision der Bau- und Zonenordnung (BZO) enthielt zumindest einen Klärungsversuch zur Frage des Vollzugs. Da es sich beim umstrittenen Artikel 4b «Ziele der kooperativen Planung: Verdichtung und Kostenmiete im Wohnungsbau»4 um eine Form des Mehrwertausgleichs handelt – bzw. gemäss Kanton um «einen Eingriff in die Grundeigentümerrechte» –, war er mangels kantonaler Gesetzesgrundlage nicht genehmigungsfähig.

Mit der Annahme der Vorlage «Festlegung Mindestanteil preisgünstiger Wohnraum» am 28. September 2014 haben die Stimmberechtigten des Kantons Zürich nun zwar der dafür erforderlichen Änderung im Planungs- und Baugesetz (PBG) zugestimmt. Der Kanton muss nun aber zunächst eine Ausführungsverordnung ausarbeiten, die nach dem Vernehmlassungsverfahren schliesslich durch den Kantonsrat genehmigt werden muss. Wann das so weit sein wird, lässt sich nicht sagen, ­Anfang 2016 wäre aber laut gut informierten Quellen bereits sehr sportlich.

So oder so wird das Abstimmungsergebnis die laufende Revision der BZO nicht tangieren. Der überarbeitete BZO-Entwurf – ohne «Mehrwertausgleich», aber vermutlich mit Klärungen zum Thema «kooperative Planungen» – wird am 29. Oktober dieses Jahres präsentiert.5

Geben und Nehmen

Auch ohne verbindliches Regelwerk gibt es für Grundstückseigentümer bereits genügend Motive, einen Mehrwert für die Öffentlichkeit einzuplanen – an einer ­derart zentralen Lage wie der Europaallee betrifft dies Alleen, Plätze und Erdgeschossnutzungen. Rotzler Krebs Landschaftsarchitekten gestalten die Freifläche; anschliessend geht der öffentliche Raum ins Eigentum der Stadt über.

Für die Erdgeschosse entlang der Lager­strasse liessen die SBB vom Immobilienunternehmen Fischer ein eigenes Nutzungskonzept erstellen. Als scharfer Bruch zum angrenzenden Kreis 4 stellt die Gestaltung dieser Strassenfront die grösste Heraus­forderung dar. Unter dem Titel «Markt Lagerstrasse» sollen quartier­typische Autorenshops – also keine ­Filialen einer Kette – nach und nach von den Flächen Besitz ergreifen.

Um halbwegs bezahlbare Mietpreise bieten zu können (durchschnittlich 300 bis 400 Fr./m2 gegenüber dem derzeitigen Marktwert von 511 Fr./m2)6, findet eine Quersubventionierung über die Obergeschosse statt; insbesondere Büros bringen laut Steiger an dieser Lage Geld. Über Fischer ist auch die Zusammen­ar­beit mit Bruno Deckert, dem Betreiber der Kulturbar ­«Sphères» an der Hardturmstrasse, und dem Filme­macher Samir entstanden. Ihr kulturelles Warenhaus «Kosmos» wird als Schlusspunkt an der Langstrasse zu liegen kommen; für die durchgehende Belebung des Areals ein Glücksfall.

Die Projektentwicklung bis hin zu Vermietungen und Quersubventionen ist aber nicht etwa mit Sozialromantik zu verwechseln: «Spannende Angebote im EG bringen Leute in die Obergeschosse. Die Erd­ge­schoss­nutzungen wiederum haben nur Erfolg, wenn sie für die Leute im Obergeschoss oder, wie im Fall der Lagerstrasse, des Quartiers interessant sind», fasst Steiger zusammen.

Die Europaallee ist nur eines von rund zehn städtischen Entwicklungsgebieten. Auch wenn sich noch eine gewisse Unsicherheit bei der Gestaltung der Erdgeschosse und Skepsis gegenüber Gewerbeflächen zeige, wie Wüest & Partner feststellen, lasse sich bei den grösseren Arealentwicklungen ein verstärktes Bewusstsein für eine Nutzungsmischung beobachten.

Vielleicht wird es also tatsächlich gelingen, dass in diesem Prozess des Gebens und Nehmens zumindest Teile der aktuellen Entwicklungsgebiete, wie von Ursula Koch postuliert, zu öffentlichen Begegnungsräumen werden. Ob die ­Bauten dabei «bloss als Kulisse» dienen werden, ist eine andere Geschichte. Sie handelt weniger von Stadt­planung als von einer Wettbewerbskultur, die auf ­Einzelobjekte und Namen fixiert ist. 

Hinweis: Zürichs städtebauliche Transformation in den vergangenen 16 Jahren ist das Thema der TEC21-Ausgaben 41 und 42/2014. Unter dem Titel «Umpflügen, aufwerten, positionieren» legte André Bideau in TEC21 41/2014 den Fokus auf die städtischen Entwicklungsprojekte «von Rossi bis zur Europaallee». TEC21 42/2014 widmet sich der Freiraum- und Verkehrsplanung. Die Illustration der beiden Ausgaben übernahm Fotograf Hannes Henz.

Anmerkungen

  1. Baugesuche und -bewilligungen 2002–2014, Docu­media Schweiz, Wüest & Partner
  2. Gesamtschweizerisch betrug der Anstieg im gleichen Zeitraum 11 %. Vgl.: Entwicklung der Angebotspreise für Mietwohnungen in der Stadt Zürich, Immo-Monitoring Wüest & Partner
  3. Vollständige Liste: www.stadt-zuerich.ch/entwicklungsgebiete
  4. Gemäss neuem Artikel 4b wären Grundeigentümer bei einer wertvermehrenden Um- oder Aufzonung verpflichtet gewesen, mittels kooperativer Planung bzw. Sondernutzungsplanung einen angemessenen Mindestwohnanteil für Kostenmiete, eine städtebau­liche Aufwertung und eine qualitätvolle bauliche Verdichtung sicherzustellen. Dass damit weder die Bedingungen für eine kooperative Planung, etwa die Parzellengrösse, noch ein verbindlicher Mindestwohnanteil für Kostenmiete festgelegt wurden, erntete auch seitens der Wohnbaugenossenschaften Kritik.
  5. Nach rund 500 Einwendungen im Mitwirkungsverfahren wird die BZO momentan überarbeitet. Dieser Artikel bezieht sich auf die aktuelle Gesetzeslage. Die überarbeitete BZO wird ab 29. 10.2014 öffentlich aufliegen.
  6. Angebote zwischen März 2013 und Februar 2014 in einem Umkreis der Lagerstrasse von 500 Metern, Wüest & Partner AG.

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