«In­ge­nieur­bau­kunst un­ter Zeit­not»

Interview mit Dialma Jakob Bänziger

Der Rohbau der Toni-Molkerei wurde in kurzer Zeit und wo nötig mit unkonventionellen Mitteln erstellt. Der projektierende Bauingenieur Dialma Jakob Bänziger erinnert sich an die Planung vor 42 Jahren.

Publikationsdatum
24-09-2014
Revision
18-10-2015

TEC21: Herr Bänziger, nach 36 Jahren Betrieb wurde das Tragwerk der Toni-Molkerei freigelegt. Welche Erinnerungen setzt das bei Ihnen frei?
Dialma Jakob Bänziger: Ende der 1960er-Jahre durfte ich mit meinen zwei Ingenieurbüro-Einzelfirmen in Zürich und Buchs SG viele und grosse Aufträge bearbeiten. Wegen dieser intensiven beruflichen und wegen einer familiären Belastung hatte ich Ende 1972 ein Burnout, gerade als die Bauarbeiten ein Jahr früher als erwartet für die Planung und Ausführung der Molkerei begonnen hatten. Meine Mitarbeiter und zwei befreundete mitarbeitende Ingenieurbüros überbrückten die Situation während der ärztlich verordneten Pause von drei Monaten – das ist das Umfeld, das meine Erinnerung an den Baubeginn der Molkerei lebhaft prägt.

Sie planten den grossen Baukörper mit seiner markanten und für den Bau typisch gewordenen Rampe.
Bänziger: Alles an diesem Bauwerk ist gross, 230m lang und 100m breit ist es. Mit riesigen und schweren Maschinen drin. Und weil man während des Betriebs viel Wasser zum Waschen und Spritzen brauchte, musste über dem Konstruktionsbeton ein dicker Gefällsbeton eingebracht werden. Die Decke hatte ein hohes Eigengewicht. Stützen störten den Betrieb – also machten wir ein Stützenraster von grosszügigen 10x10m. Weil die Stützen dünn und unscheinbar sein sollten, setzten wir schlanke geschmiedete Stahlstützen mit rundem Vollquerschnitt ein, die nicht gegen Feuer isoliert werden mussten. 20 bis 48cm dick waren sie, bei einer Raumhöhe von 7.28m. Ihre Belastung war gross; im untersten Geschoss mussten sie 1700t tragen.

Das sind riesige und stellenweise sehr unterschiedliche Lasten bei enorm grossen Gebäudeabmessungen. Eine Gebäudeunterteilung drängt sich auf.
Bänziger: Es gibt vier verschiedene Bereiche, die mit Dilatationsfugen voneinander getrennt sind. Jeder Bereich musste erdbebensicher sein. Obwohl der Nachweis der Erdbebensicherheit damals nicht verlangt war, liess ich jeden gemäss den SIA-Normen erdbebensicher ausführen und schrieb einen Bericht zuhanden der Bauherrschaft. Dies war notwendig, um die konstruktiven Konsequenzen gegenüber dem Architekten durchzusetzen. Wegen der verschiedenen Gebäudelasten galt es, mögliche Setzungsdifferenzen auszugleichen. Zudem war mit unterschiedlichen Gebäudebewegungen infolge Schwind- und Kriechverkürzungen des Betons zu rechnen – vor allem auch aufgrund unterschiedlicher Temperaturen, denn das Kühllager sollte bis – 30°C heruntergekühlt werden können, während an Sommertagen durchaus mit Aussentemperaturen von bis zu + 30°C zu rechnen war.

Lift- und Treppenkerne in jedem Haupttrakt stabilisieren das Tragwerk mit einzelnen betonierten Windscheiben gegen Horizontallasten wie Wind und Erdbeben. Die Geschossdecken wirken als Scheiben und leiten die Horizontalkräfte ab. Wie wurde das Gebäude fundiert?
Bänziger: Die Lasten kommen konzentriert über Stützen und Kerne in die Bodenplatte. Gross-pfähle hätten tief in die weniger tragfähige Schicht hinuntergeführt werden müssen. Darum entschieden wir uns für eine Flachfundation – mit dem UG zusammen als weisse Wanne ausgebildet. Das war auch für den Grundwasserstrom vorteilhaft, den wir nicht beeinträchtigen durften. Die Fundamentplatte ist fast 2m stark – nämlich an jenen Stellen, wo die konzentrierten Stützenlasten abgeleitet werden müssen. Ich kann mich gut daran erinnern, wie ich zwischen der unteren und oberen Bewehrung aufrecht gehen konnte. Das hatte ich noch nicht erlebt.

Die schlanken Stützen und die schweren Lasten bergen das Durchstanzproblem. Wie bildeten Sie das Deckensystem aus?
Bänziger: Wir verglichen verschiedene Systeme miteinander und führten schliesslich eine 52cm dicke Flachdecke aus. Die Schwierigkeit war, die Lasten aus dieser dicken Decke in die dünnen Stützen zu leiten, zumal der Architekt auch noch vier Aussparungen bei den Stützenköpfen angeordnet haben wollte. Die Stützen sind als Pendelstützen konstruiert. Eine Einspannung hätte Momente verursacht, die die Konstruktion nicht hätte aufnehmen können. Pilzdecken wiederum hätten das Lichtraumprofil für den Betrieb in den Hallen eingeschränkt. Also legten wir Stahlpilze in die Decken hinein. Die geschweissten Konstruktionen – auch jene im Kühllager, wo es – 30°C kalt wird – lieferte die Stahlbauunternehmung Geilinger. Es gibt bei Schweissnähten eine kritische untere Temperatur, unter der Sprödbruchgefahr besteht. Wir führten deshalb an der Empa Versuche im Massstab 1:1 durch, die diese Gefahr bestätigten. Ein solcher Stahlpilz brach plötzlich mit lautem Knall auseinander. Es hat mich regelrecht umgehauen. Aufgrund der Belastungsversuche wurden Kriterien erarbeitet, dank deren auf ein kostspieliges und zeitaufwendiges Spannungsfreiglühen verzichtet werden konnte. Die Empa kontrollierte den Schweissvorgang inklusive des Schweiss- und des Grundmaterials, und nur die besten Leute durften schweissen. 

Direkt an den Kühllagertrakt schliesst die markante Auffahrrampe an.
Bänziger: Eigentlich sollte die Rampe entlang der Fassade des Gebäudes führen. Während einer Sitzung zeichnete Hermann Widmer des Architekturbüros André E. Bosshard mit dem Kohlestift einen Schwung auf der Stirnseite des geplanten Gebäudes; auf dieser Rampe mussten die Milchtanklastwagen mit Anhänger rauf- und runterfahren. Es war eine aussergewöhnliche Form. Wir arbeiteten unter Zeitdruck. Also liess ich ein Lastwägelchen im Massstab 1:100 bauen und legte die Geometrie der Rampe damit fest. Ganz rudimentär. Ich fuhr, und ein Mitarbeiter zeichnete mit dem Bleistift die Radspuren nach. Es gibt keine mathematische und geometrische Definition dieser Kurve. Wir zeichneten weder einen Radius noch eine Klothoide, sondern bestimmten die Geometrie empirisch; abgestimmt auf die Milchtanklastwagen, die die Rampe befahren würden. Wenn so einer raufkommt, schafft es jeder Wagen. 

Die Bauzeit war knapp bemessen?
Bänziger: Die Zeit vom Bauentscheid bis zum Baubeginn war mit wenigen Monaten so kurz, dass wir nur mit vereinfachten statischen Modellen arbeiten konnten, um rechtzeitig Ausführungspläne bereitstellen zu können. Wir konnten nicht auf Computerprogramme zurückgreifen. Um die vereinfachte Berechnung zu verifizieren, liessen wir die statischen Verhältnisse nach Bauvollendung mit einem Empa-Belastungsversuch testen. Darin liegt die Ingenieurbaukunst: die Realität zu abstrahieren und sie mit Annahmen in einem Modell abzubilden. Hat der Ingenieur mehr Zeit, kann er ausführlicher sein, bei engerem Zeitkorsett muss er sich auf das Wesentliche konzentrieren. Wichtig ist dabei die Erfahrung.

Welche Ergebnisse zeigten die Belastungsversuche?
Bänziger: Die gemessenen Verbiegungen und Verdrehungen sowie die Betondehnungen stimmten gut mit den berechneten Werten überein. Die vereinfachten Annahmen funktionierten auch hier. Statisch handelt es sich bei der unteren und oberen Rampe um ein räumlich gekrümmtes Stabtragwerk. Die Übergangsbereiche der Rampen zu der mittleren Verkehrsebene stellen dagegen ein Flächentragwerk dar, das mit Trägerrostberechnungen erfasst wurde. Der Mittelteil kann angenähert als gerades Stabtragwerk betrachtet werden. Alle Tragelemente sind monolithisch miteinander verbunden. Die doppelstöckige Brückenkonstruktion mit zentrisch angeordneten, kreisrunden Betonpfeilern von 1.30m Durchmesser ist in der durchgehenden Bodenplatte mit lokalen Verstärkungen fundiert. Mit Ausnahme des niedrigsten Pfeilers sind alle in der Bodenplatte fest eingespannt. Der Festpunkt für die gesamte Konstruktion ist der Treppenturm links auf der Stirnseite; Horizontalkraftlager mit Vorspannkabel sichern den Fixpunkt. Beim unteren Rampenende befindet sich das bewegliche Widerlager. Entlang des Kühllagertrakts ist die Brücke auf L-förmigen Auflagerträgern abgestützt. Die obere und die untere Rampe sind als einzellige Hohlkasten mit variabler Kastenbreite, aber konstant ausladenden Konsolen ausgebildet. Die Seitenborde sind nach dem New-Jersey-Profil erstellt worden und tragen ein Leitrohr; kein Lastwagen durfte hinunterfallen.

TEC21: An der Rampe wird heute nichts verändert, sie bleibt im Original erhalten. Komplett anders sieht es mit den Haupttrakten aus. Wie sind solche radikalen Veränderungen möglich 
Bänziger: Wichtig waren die Angaben des leitenden Molkereiingenieurs, der auf die periodischen Anpassungen der Maschinerie hinwies. Dafür war eine flexible Tragkonstruktion unabdingbar. Aus betrieblichen Gründen musste die Maschinerie ausgewechselt und aufgestockt werden können. Wir liessen die Deckenbewehrung deshalb als Streifenrost verlegen, dazwischen kann man den Beton entfernen. Selbst bei den Stützen dimensionierten wir so, dass Zwischendecken eingefügt oder rausgenommen werden können. Diese Anpassungsmöglichkeiten sind dokumentiert und archiviert. Insofern ist es nicht überraschend, was alles möglich war. Ich wusste, welches Veränderungspotenzial die Tragkonstruktion des Baus bietet, denn es war so eingeplant. 

Erstmals und in ausführlicher Form wurde das Interview publiziert auf der Website der Gesellschaft für Ingenieurbaukunst: www.ingbaukunst.ch

Dialma Jakob Bänziger ist dipl. Bauingenieur ETH. 1951–59 Praxisjahre in Unternehmungen, Ingenieurbüros und bei den SBB. 1959 Gründung der heutigen Bänziger Partner AG in Zürich und Buchs SG; anfänglich in Partnerschaft mit Edy Toscano. Bis 2004 Projekt- und/oder Bauleitung bei rund 500 Brückenbauten. Heute ist er Berater in der Bänziger Partner AG mit 100 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, die seit 2004 seine Partner führen.

Literaturverzeichnis

  1. «Die Toni-Molkerei Zürich», Einweihungsschrift zur offiziellen Eröffnung, Milchverband, Mai 1977.
  2. D. J. Bänziger: «Hauptprobleme der Baukonstruktion beim Neubau der Toni-Molkerei Zürich», Schweizerische Bauzeitung, 95. Jg., Heft 18, 5. Mai 1977.
  3. «Dialma Jakob Bänziger – Brückenbau 1960–2005», Dialma Jakob Bänziger, 396 Seiten, 1. Sept. 2009; ISBN 978-3-033-02036-8.
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