Kann Architektur die Spielregeln ändern?
Die Welt leidet an sozialen und ökologischen Krisen, die auch dem modernen Städtebau anzukreiden sind. Dagegen treten Architekturschaffende mit fürsorglicher Haltung an. Anlässlich einer Ausstellung im Zentrum Architektur Zürich machen sie sich Gedanken, ob die Architektur Gutes für diesen Planeten tun kann.
Noch vor wenigen Monaten haben wir geklatscht, aus Respekt für die Sonderefforts eines Pflegepersonals, das sich wie selbstverständlich um die Gesundheit der Bevölkerung kümmert. Inzwischen ist es wieder still auf unseren Balkonen; überlastet sind die Fachkräfte in Spitälern und Intensivstationen noch immer.
Eine nachhaltigere Dankesgeste dachte sich der englische Graffiti-Künstler Banksy aus: Er liess eine Auktion ausrichten und spendete den Erlös an britische Gesundheitsorganisationen. 20 Millionen Franken brachte die Versteigerung seiner Bleistiftzeichnung ein. Darauf spielt ein kleines Kind mit einer Puppe, die als Rotkreuz-Schwester im Superheldinnenkostüm erkennbar ist.
«Gamechanger» heisst das gezeichnete Werk: Batman und Spiderman stecken kopfüber im Papierkorb. Die bisherigen Lieblingshelden eines jeden Kinderzimmers haben offensichtlich ausgedient. Deren ordnende Superkraft ist gegenüber den unermüdlichen Helferinnen in Weiss machtlos.
Was der unbekannte Künstler zum Ausdruck bringt, ist existenzieller Trost für die Gesellschaft: So klein und fies das Coronavirus auch erscheinen mag; irgendjemand ist noch da und leistet diskussionslose Hilfe. Eine besondere Rolle spielt ebenfalls das gezeichnete Banksy-Kind. Es hat erkannt, wer und was dieser Welt in Not guttun könnte: Nicht zackiges, prahlerisches Kraftgestrotze, sondern die milde und aufmerksame Fürsorge. Wäre das nicht auch wirksame Medizin gegen die übrigen ernsthaften Leiden der Weltgemeinschaft?
Wer ändert die Spielregeln?
Klimawandel, Armut und Unterdrückung sind mindestens so grosse respektive weit länger dauernde Krisen wie die laufende Pandemie. Aber welches Spiel läuft hier? Und welche Instanz könnte hier – mit einem heldenhaften Emblem auf der Brust – entweder spontane Linderung bieten oder notfalls auch die Spielregeln ändern?
«Critical Care – architecture and urbanism for a broken planet», heisst die Ausstellung im Zürcher Architekturzentrum (ZAZ), die dazu eine klare Antwort gibt: Architekturschaffende sorgen sich um den Zustand der Welt und springen dort ein, wo die Welt brennt oder stabile Ordnungen längst zusammengebrochen sind.
Kuratiert hat die Schau das Architekturzentrum Wien. Dort wurde sie vor zwei Jahren erstmals gezeigt. Nun präsentiert sie ihre hoffnungsvolle These im Haus Bellerive einem Schweizer Publikum und liefert als Beleg für die fürsorgliche Architektur zahlreiche Fallstudien und unterschiedlichste Krisenlagen.
Diagnostiziert wird ein fiebriger, hilfsbedürftiger Planet: Es geht um Abwanderung, Ausgrenzung, Verdrängung, Flucht sowie ungerechte Arbeits- und Lebensbedingungen. Eine objektivierende Einordnung unterbleibt, so dass die Gentrifizierung europäischer Städte unmittelbar neben prekärsten Verhältnissen in Bangladesh oder Jordanien auftaucht.
Wahr daran ist, dass ein jeder Ort seine eigenen Nöte kennt und eine Weltrangliste der Krisen selbst keine weitere Hilfe bietet. Denn das erzählt diese Schau im Haus Bellerive an der Zürcher Seepromenade vor allem: Es gibt viele Mittel und Wege, den Lauf der Dinge positiv zu prägen. Die Architektur spielt dabei nicht immer die Hauptrolle, aber sie bringt oft viel Know-how ein, wie sich die lokale Bevölkerung gebührenden Platz sichern und mitgestalten kann.
Im katalonischen Caldes de Montbui haucht ein Bürgergarten dem ehemaligen Thermalpark und dem Dorf darum herum frisches Leben ein. Die einst gefürchtete Drogenstadt Medellín in Kolumbien ist nun ein bürgernahes Reallabor für die kreative Stadtplanung.
Am Wiener Nordbahnhof gibt es vertrautere Themen zu entdecken: Die Gleisbrache ist ein urbanes Experimentierfeld aus Partizipation, Biodiversität und Nachhaltigkeit. Und eine Brücke schlagen lässt sich auch zum chinesischen Dorf Jintai, das ständig von Hochwasser bedroht ist: Die daran angepasste Siedlungsform ist architektonisch so sicher und clever verdichtet, dass mindestens ein Bild davon in jeden Leitfaden zum baulichen Umgang mit Naturgefahren gehört.
Applaus für wen?
Die Critical-Care-Ausstellung wurde für den Besuch in Zürich eigens mit «fürsorglicher Architektur» aus der Schweiz ergänzt. Was an diesen Beiträgen auffällt, ist das weite Feld an planetarischen Hilfeleistungen, die zwischen klimaschonender Bautechnik und soziökonomischen Raumnutzungsideen pendeln. Viele Beispiele sprühen vor gutem Geist und regen inhaltlich an.
Ermüdend ist dagegen das Ausstellungsformat: Die grosse Fülle an Themen und die vielen Texte, die es dafür zu lesen gilt, sprechen oft nur den Intellekt an; die visuelle Wirkung einer Sorge tragenden Architektur kommt dagegen zu kurz. Deshalb sei empfohlen, die Ausstellung mithilfe des Katalogs zu vertiefen.
Denn sich den Fragen zu stellen, wie die Architektur Krisen lindern kann und ob Architekturschaffende die Superhelden von morgen sind, gehört eigentlich zum Verantwortungsbewusstein dieses einflussreichen Berufsstands. So viel ist gewiss: Eine Architektur, die sich um ökologische und soziale Fragen kümmert, hat unseren Applaus verdient.
«Critical Care. Architektur für einen Planeten in der Krise» noch bis 29. August 2021 im Zentrum Architektur Zürich ZAZ, Höschgasse 3, 8008 Zürich
Öffnungszeiten:
Mittwoch bis Sonntag 14 bis 18 Uhr