«Und dann fahren drei Lieferwagen hintereinander her»
Die Logistik ist ein zentraler Bestandteil unseres Alltags: Jedes Buch, jedes Brot, jeder Backstein wird irgendwann transportiert. Und sie ist Gegenstand von Zielkonflikten im urbanen Raum. Dabei könnte die Branche selbst viel zur Verkehrsentlastung und zu lebenswerten Zentren beitragen.
Die Logistik ist keine gern gesehene Alltagserscheinung. Liefer- und Lastwagen im urbanen Raum passen nicht zu unseren Visionen von lebenswerten Städten mit wenig Verkehrslärm, Stau und Emissionen, obwohl eine funktionierende Ver- und Entsorgung genau dafür eine Voraussetzung ist. Die Belastung der Infrastrukturen ist auch auf Versäumnisse in der Raumplanung zurückzuführen: Logistikflächen für den Umschlag – also für die Sammlung, die Sortierung und das Umladen von Gütern – sind schon heute weitestgehend aus den Städten verdrängt, wodurch die sogenannte «letzte Meile» im Güterverkehr, die einen Grossteil der Kosten und Emissionen verursacht, zunehmend länger wird. Und auch die Verkehrsprognosen des Bundes deuten kaum auf eine Entspannung hin: Bis 2050 wird insbesondere de Lieferwagenverkehr mit +58 % überproportional zulegen. Wie also weiter? Im Interview erklärt uns Maike Scherrer, Professorin und Schwerpunktleiterin Nachhaltiges Supply Chain Management und Mobilität an der ZHAW, wie Bündelung und Kooperation, Digitalisierung und Automatisierung, raumplanerische Flächensicherung und regulatorische Massnahmen einen Beitrag zu einer nachhaltigen urbanen Logistik leisten können.
TEC21: Frau Scherrer: Was umfasst Ihre Forschungstätigkeit genau?
Maike Scherrer: Kurz gesagt alles von den globalen Lieferketten bis zum Güterumschlag auf der Quartiersebene. Dabei spielen viele grosse Themen eine wichtige Rolle: Nachhaltigkeit, Resilienz, Kreislauffähigkeit oder Technologien wie die Digitalisierung und Automatisierung. Wir untersuchen beispielsweise, was es braucht, um die gesamte Lieferkette, von der Kuh bis zum Kühlschrank, energieautonom abzuwickeln.
Was haben lebenswerte Städte oder Nachbarschaften mit der Logistik zu tun?
Fast alles, was wir besitzen oder konsumieren, ging irgendwann einmal durch die Hände der Logistik. Eine funktionierende Ver- und Entsorgung ist also essenziell für unseren Alltag, denn die Menschen wollen Güter konsumieren. Die Menschen wollen aber auch lebenswerte Städte ohne sichtbaren Güterverkehr.
Die Logistikvolumen nehmen kontinuierlich zu. Gleichzeitig werden vielerorts Umschlagplätze aus der Stadt verdrängt. Tonnenkilometer nehmen dadurch zu und die Infrastrukturen sind überlastet. Was sind die aktuellen ökonomischen, ökologischen und sozialen Herausforderungen in der urbanen Logistik?
Die Herausforderungen sind vielseitig: Hohe Logistik- und Staukosten, fehlende Bündelungseffekte, CO2- und Feinstaubemissionen, Verkehrsbelastungen, steigender Rohmaterialeinsatz und schwindende Lebensqualität in den Städten, um nur ein paar Stichworte zu nennen.
Im ökonomischen Bereich sind die Kosten das grösste Problem. Und hier ist auffällig, dass 53 % der gesamten Transportkosten auf der sogenannten «letzten Meile» – also der Strecke ab dem letzten Umschlag bis zum Empfänger – anfallen. Dasselbe gilt für die Treibhausgas-Emissionen. Hinzu kommt: Je mehr kleine und schnelle Lieferungen gefragt sind, desto mehr kleine Fahrzeuge sind unterwegs. Das allein ist schon weniger ökologisch, weil die Flotten dadurch wachsen und sich die Bündelungsmöglichkeiten für Güter mit ähnlicher Adresse reduzieren.
Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 13/2023 «Die letzte Meile».
Onlinehandel und Same-Day-Delivery sind also auch schuld an den Problemen?
Es kommt darauf an, wie und wohin ausgeliefert wird. Problematisch ist, dass sich der Onlinehandel an den Zustellpräferenzen der Besteller orientiert. Selbst wenn alle Fahrten elektrisch und emissionsneutral wären, hätten wir noch immer wachsende Flotten und zunehmenden Verkehr auf den Strassen. Unabhängig vom Antrieb gilt: Je kleiner das Lieferzeitfenster, umso ineffizienter ist die Zustellung. Wenn der Blumenlieferant für nur einen Blumenstrauss mit dem Lieferwagen ausfährt, macht das letztlich für niemanden Sinn.
Ausser für die Person, die den Blumenstrauss erhält …
Ja – wobei sich die Frage stellt, wer in der Verantwortung ist: der Kunde, der bestellt, oder der Händler, der ein Angebot schafft und sich dadurch einen Wettbewerbsvorteil erhofft?
Welche Rahmenbedingungen braucht es, um die urbane Logistik nachhaltiger zu gestalten?
Es braucht mehr kompetitive Kollaboration – oder wie wir es nennen: «Koopetition». Eines der Hauptprobleme ist die fehlende Bündelung. Weit weg vom Endkunden ist das kein Problem: Kein Logistiker käme je auf die Idee, eigene Frachtschiffe zu betreiben. Wenn aber das Paket in der Stadt zugestellt wird, kommt jeder mit dem eigenen Wagen. Die Zusammenarbeit kann aber auch auf der letzten Meile gut funktionieren, wenn Unternehmen sich optimal ergänzen und die Kundenbedürfnisse einbeziehen. Voraussetzung dafür sind gemeinsam genutzte Flächen im urbanen Raum – also multimodale «Hub-Standorte» –, die eine Auslieferung über verschiedene Anbieter hinweg, eine vorausschauende Bevorratung und Bündelung sowie einen Umschlag auf transportgut- und stadtverträgliche Fahrzeuge für die Feinverteilung in die Zentren ermöglichen.
Welche Potenziale bieten die Automatisierung und Digitalisierung?
Sie bieten grosses Potenzial, kämpfen aber auch mit Hürden. Dabei liegen die Herausforderungen nicht im technischen Bereich, sondern in der Offenlegung der Daten, die jeder Logistiker für die Abwicklung seiner Geschäfte benötigt und verarbeitet. Logistiker haben Angst, dass ihnen die Konkurrenz bei vollständiger Datentransparenz ihre Kunden stiehlt. Um den Güterverkehr als Ganzes zu optimieren, sind wir aber auf die Daten aller Beteiligten angewiesen. Schon heute nutzen die Logistikunternehmen ihre Daten für die Optimierung, aber halt jeder für sich selbst. Und dann fahren drei Lieferwagen hintereinander her.
Letztlich geht es darum, möglichst wenig Logistikverkehr und Emissionen zu generieren. In letzter Konsequenz würde das aber auch bedeuten, dass nur noch einzelne Anbieter mit transportgut- und stadtgerechten Fahrzeugen die Päckli im Quartier verteilen. Gegenüber dieser Vorstellung haben aber viele Logistiker Vorbehalte. Dabei funktionieren solche «koopetitiven» Ansätze – wenn auch regulatorisch verordnet – andernorts gut.
Was können Städte und Kantone generell tun, um Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Logistik zu schaffen?
Die öffentlichen Behörden können die Rahmenbedingungen für die Versorgung mitgestalten. Sie können etwa bei Grossbaustellen Auflagen zur Logistik machen und sich mit privaten Unternehmen zusammenschliessen. Zum Bau des Roche-Turms in Basel hat der Kanton beispielsweise verordnet, dass alle Baustellenmaterialien ausserhalb der Stadt gebündelt und zur Baustelle transportiert werden. Damit konnten gemäss Angaben der Verantwortlichen sagenhafte 60 % der Fahrten eingespart werden.
Grundsätzlich können Behörden Steuerungsmechanismen aufbauen und sollten dort eingreifen, wo Güter knapp sind. Die raumplanerische Sicherung von Logistikflächen ist eine solche Aufgabe. Und auch bei der diskriminierungsfreien – das heisst für alle Logistikunternehmen offenen – Förderung von «koopetitiven» Systemen sehe ich eine bedeutende Rolle bei den Behörden. Mit den vorliegenden Güterverkehrs- und Logistikkonzepten gibt es erste Ansätze dafür. Mir scheint wichtig, dass die Behörden eine neutrale Rolle einnehmen, in der sie möglichst ohne regulatorische Eingriffe die für eine nachhaltige Logistik erforderlichen Rahmenbedingungen schaffen.
Welchen Beitrag können die Raum- und Richtplanung leisten – sind beispielsweise Kernthemen wie funktionsfähige Quartierzentren (Stichwort: «15-Minuten-Städte») ein Treiber für nachhaltige Logistikkonzepte?
Ja, durchaus. In einer 15-Minuten-Stadt ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass man zu Fuss oder mit dem Velo ins Restaurant, zur Apotheke oder zum Einkaufen geht, wodurch die Logistikketten effizienter werden und die Verschmelzung von öffentlichem und privatem Raum besser funktioniert. Dafür braucht nicht jede 15-Minuten-Nachbarschaft einen eigenen Hub. Eher sollten Standorte so liegen, dass sie möglichst viele solche Nachbarschaften bedienen können. Für Zürich kamen wir bei einer Modellrechnung unter der Voraussetzung funktionsfähiger Quartierzentren auf einen Bedarf von drei Standorten für das gesamte Stadtgebiet. Für kleinere Städte könnten je nach Situation auch ein oder zwei Standorte ausreichen.
Was erhoffen Sie sich hinsichtlich Logistik für die Schweiz im Jahr 2050?
Ich erhoffe mir, dass die Logistik räumlich und funktional als fester Bestandteil in die bestehenden Strukturen integriert und mitgedacht ist. Und dass alle Akteure für einen zuverlässigen, platzsparenden und nachhaltigen Güterverkehr zusammenarbeiten – frei vom Gärtlidenken, offen und interessiert an neuen Ideen und Lösungen.
Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 13/2023 «Die letzte Meile».