Mar­kan­te Mar­kie­rung

Das Hochhaus «Norra Tornen» in Stockholm vom Office for Metropolitan Architecture (OMA) wurde kürzlich mit dem Internationalen Hochhaus Preis 2020 ausgezeichnet – zu Recht?

Publikationsdatum
26-11-2020

Das Projekt Norra Tornen bilden zwei sich gegenüberstehende spiegelgleiche Türme, die eine Torsituation formen. Sie markieren an einer innerstädtischen Hauptverkehrs­achse den Übergang vom Quartier Vasastaden zum gerade neu ent­stehenden Stadtteil Hagastaden. ­Vasastaden gehört zum alten, beschaulichen Stockholm, geprägt von Blockrandbebauungen mehrheitlich aus den 1930er-Jahren, dessen internationale Wahrnehmung auch durch die Geschichten Astrid Lindgrens (1907–2002) mitgestaltet wurde – die berühmte Kinderbuchau­torin lebte hier 60 Jahre lang.

Mit Hagastaden (städtebauliche Planung: Aleksander Wolodars­ki, 1944) wird bis 2030 ein neues, dichtes, urbanes Quartier mit rund 50 000 Arbeitsplätzen und 6000 neuen Wohnungen fertiggestellt werden, mit dem die Stadt einen modernen und «unverwechselbaren Charakter»1 erhält. Auf der ehemaligen Industriebrache wachsen Stockholm und die nördlich gelegene Stadt Solna zusammen. Mit 96 ha ist das Gebiet das derzeit grösste Stadtentwicklungsprojekt Stockholms und etwa dreimal so gross wie die berühmte Altstadt Gamla Stan.2Die Norra Tornen bilden das Wahrzeichen dieses neuen Stadtteils und sollen zwischen Alt und Neu vermitteln.

Die Gebäude

Das niederländische Architekturbüro OMA konzipierte die beiden Gebäude mit vorgefertigten Fas­sadenelementen aus geripptem, braun eingefärbtem Beton mit frei lie­gender, mehrfarbiger Steinkornmischung. Es soll an brutalistische Architektur erinnern, die in Schweden gern mit dem Architekten Hans Asplund (1921–1994) assoziiert wird – er gilt auch als Schöpfer des Begriffs Brutalismus.

Die Erdgeschosszonen sind mit Gewerbeflächen belegt, darüber stapeln sich Balkone und würfelartige Wohnelemente, sodass ein «skulpturales Vexierspiel»3 entsteht  –  zwei sich nach oben verjüngende, verschachtelte Gebäude. Mit 125 m und 36 Stockwerken ist der 2018 eröffnete Ostturm – er trägt den Namen «Innovationen» – das höchste Wohngebäude in Schwedens Hauptstadt.

Der Westturm «Helix» misst 110 m mit 33 Stockwerken. Die insgesamt 300 Wohneinheiten haben eine Fläche von 44 bis 271 m². Eine Besonderheit des Gebäudes ist die Verwendung einer möglichst gros­sen Zahl von Fertigteilen. Dadurch waren Bauarbeiten auch bei weniger als 5 °C möglich, und die Baukosten konnten reduziert werden. 

Den Bewohnern stehen zudem ein Kinoraum, ein kleines Gästeapartment, ein Versammlungs­raum mit Küche, eine Sauna, ein kleines Fitnessstudio und ein Yoga-­Raum zur Verfügung. 

Die Norra Tornen haben eine energieeffiziente Sandwichfassade mit 23 cm dicker Wärmedämmung und dreifachverglaste Fenster ohne Riegel und Pfosten zur Vermeidung von Kältebrücken. Eine natürliche Belüftung der Wohnräume wird durch fest eingebaute Lüftungs­elemente in den Fassadenbauteilen erreicht. Weitere technische Gebäudeausrüstungen wie ein Wärmerückgewinnungssystem, Wärmetauscher in jeder Wohnung oder Gewerbeeinheit und der Anschluss an das Fernkühlsystem tragen zur Nachhaltigkeit der Türme bei. Auch das anfallende Grauwasser wird genutzt.

Die Auswahlkriterien

Um den Gewinner des Internationalen Hochaus Preises 2020 zu eruieren, setzte sich die Jury mit Fragen zur Urbanität eines Hochhauses und bezahlbarem Wohnraum auseinander. Sie attestiert dem Siegerprojekt «zukunftsweisende Gestaltung, Funktionalität, innovative Bautechnik, städtebauliche Einbindung, Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit». Sie lobt die «qualitativ hochwertigen Betonfertigteilelemente» und deren «geschickte Fügung zu individuellen Loggien». Auch trage die äussere Gestaltung zu einem «stimmigen Stadtgefüge» bei und sei «Ausdruck einer gleichwertigen Gesellschaft».

Alles nur leere Worthülsen, oder steckt hinter dem Entwurf eine wirkliche Ambition? Die innovative Bautechnik konnten die Architekten durch die Fertigteilbauweise erzielen, mit der Zeit und Kosten gespart werden konnten. Wohingegen die «zukunftsweisende Gestaltung» der beiden kastenförmigen Hochhäuser wohl eher Geschmacksache ist. Und auch das «stimmige Stadtgefüge» ist bei zwei Gebäuden, die wie Ausrufezeichen aus dem sonst von gleichmässig hohen Gebäuden geprägten Stadtbild ragen, nicht die naheliegendste Assoziation.

Und was ist mit dem «Ausdruck einer gleichwertigen Gesellschaft», den die Jury den beiden Türmen attestiert? Lang galt Schweden als ideal einer egalitären Gesellschaft, mit gleichmässig verteiltem Wohlstand. Spiegeln die neuen Wohnhochhäuser also einen sozialen Wandel?

Reinier de Graaf von OMA bezeichnete das Projekt in einem früheren Interview einmal als «Plattenbau für Reiche». Im Gespräch mit Peter Cachola Schmal, Direktor des DAM, widerspricht er heute dieser Aussage: «Immer, wenn ich nach Schweden komme, habe ich als Niederländer den Eindruck, dass die meisten Menschen dort recht wohlhabend sind. Diesem Land scheint es ziemlich gut zu gehen. In den Norra Tornen variieren die Wohnungspreise. Das Penthouse ist vermutlich sehr teuer, aber es gibt auch viele kleinere und günstigere Wohnungen.» Auch in Stockholm ist Wohnraum knapp, was die Preisspirale nach oben treibt. So kostet dann auch der Quadratmeter Wohnfläche in den beiden Türmen zwischen 9 und 1100 Euro.4 

Dass der Bau von Hochhäusern weiterhin boomt, haben auch die Organisatoren des Internationalen Hochhaus Preises bei ihrer Vorrecherche festgestellt, die die 31 zum Preis nominierten Projekte aus über tausend in den letzten zwei Jahren weltweit fertiggestellten Hochhäusern auswählten. 

Dass bei der aktuellen Frage, ob die Bauweise Hochhaus zur nachhaltigen Stadtverdichtung beitra­gen kann, die Meinungen auseinandergehen, zeigt auch die rege Beteiligung an der Diskussion zur Serie «Vertikales Wohnen». Klar ist, das Hochhaus wird so schnell nicht von der Bildfläche verschwinden. Umso wichtiger ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema und ein massvoller Einsatz der Bauform, die dann ihre Vorteile für die anwohnende Bevölkerung voll auszuschöpfen sucht. 

Anmerkungen
1 vaxer.stockholm/omraden/norrmalm-hagastaden/in-english-hagastaden/residential-quarters-and-signature-buildings/
2 vaxer.stockholm/omraden/norrmalm-hagastaden/in-english-hagastaden/residential-quarters-and-signature-buildings/
3 Presseinformation, Internationaler Hochhaus Preis 2020
4 www.zdf.de/kultur/aspekte/internationaler-hochhaus-preis-2020-100.html

Bauherrschaft
Oscar Properties, Stockholm


Architektur
OMA Office for Metropolitan Architecture, Rotterdam (NL)


Höhe
125 m


Fertigstellung
Dezember 2018

Auszeichnung
Internationaler Hochhaus Preis 2020Der mit 50'000 Euro dotierte Preis wurde vom Deutschen  Architekturmuseum (DAM), der DekaBank und der Stadt Frankfurt vergeben.

Die Ausstellung «Best Highrises 2020/21 – Internationaler Hochhaus Preis 2020», die das Deutsche Architekturmuseum (DAM) bis zum 25. April 2021 in Frankfurt am Main zeigt, umfasst neben dem Preisträger und den Finalisten alle 31 nominierten Projekte.

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