Perspektiven auf ein Haus
Das 1929 erbaute Wohnhaus Obere Schiedhalde in Küsnacht gehört zu den wichtigsten Werken der Schweizer Architektin Lux Guyer. Der Umbau zwischen 2012 und 2014 bot Anlass zu einer Monografie, in der sich Fotos, Pläne und Essays zu einem vielschichtigen Bild zusammenfügen.
Lux (Louise) Guyer (1894–1955) war die erste Schweizer Architektin mit eigenem Büro. Bekanntheit erlangte sie unter anderem mit einem vorgefertigten Musterhaus aus Holz, das sie an der ersten Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit (SAFFA) 1928 in Bern vorstellte. Die 1929 gebaute Obere Schiedhalde in Küsnacht am Zürichsee gehört zu Guyers bedeutendsten Werken. Das Einfamilienhaus geht auf den Grundtypus des hölzernen Musterhauses zurück, wurde aber in Massivbauweise erstellt.
Seit 2010 gilt das Gebäude, in dem die Architektin selbst ein Jahr lang gewohnt hatte, als überkommunales Schutzobjekt von regionaler Bedeutung. Als es 2011 in den Besitz der heutigen Eigentümerschaft kam, befand es sich in einem kaum veränderten, aber schlechten Zustand. Zwischen 2012 und 2014 erfolgte der Umbau der Oberen Schiedhalde durch Christ & Gantenbein und Sven Richter. Die umfangreiche Renovation bot den Anlass für die vor kurzem erschienene Publikation mit dem schlichten Titel «Lux Guyer. Obere Schiedhalde», die aber weit mehr ist als ein Bericht über die Umbauarbeiten.
Der erste Teil der Publikation lässt unter dem Begriff «Fotografie» viel Raum für atmosphärische Momentaufnahmen und analytische Dokumentationen des Hauses, für – zuweilen humorvolle – Detailfotos und Materialstudien. Beigefügte Grundrisse mit Standortmarkierung erleichtern die Orientierung beim Betrachten der zunächst schwarz-weiss gehaltenen Fotografien des renovierten Gebäudes. Eine Besonderheit ist die serielle Gegenüberstellung von Innen- und Aussenansichten, die für zum Teil kuriose Kombinationen von streng geometrischen Kompositionen im Innern und organischen Ansichten pflanzenberankter Aussenwände sorgt.
Unter dem Titel «Begegnung im Haus» vermittelt eine Reihe fotografisch dokumentierter alltäglicher Bewegungen der Familie in ihrem Zuhause zwischen den menschenleeren Architektur- und Gartenansichten auf der einen und Farb- und Materialstudien auf der anderen Seite. Eine Übersicht der (re)konstruierten Einrichtungsgegenstände und architektonischen Details in technischen Zeichnungen und Aufnahmen in Originalgrösse schliessen den umfangreichen Bildteil des Buchs ab.
Unter dem Stichwort «Archiv» im dritten Teil der Publikation ergänzen historische Ansichten des Hauses den zeitgenössischen Blick auf die Architektur und vermitteln einen Eindruck von der nicht erhaltenen Originalmöblierung. Handgezeichnete Pläne aus der Bauzeit stehen dort neben den zeitgenössischen Umbau- und Gartengestaltungsplänen.
Der reflektierte Umgang mit dem Bestand spiegelt sich auch in den Texten wider, die sich zusammen mit den Abbildungen im vorderen Teil des Buchs zu einem mosaikartigen «Abbild» der Oberen Schiedhalde fügen. In zehn Essays kontextualisieren die zum Teil am Umbau beteiligten Autorinnen und Autoren nicht nur die Architektin Lux Guyer und ihr Werk, sondern unterziehen auch den zeitgenössischen Umgang mit historischer Bausubstanz und die Idee des Bewahrens einer kritischen Betrachtung. Besonders erhellend sind die Ausführungen zum Entstehungsprozess der Publikation und zu den Grenzen und Möglichkeiten des Publizierens von Architektur im Allgemeinen.
Bei «Lux Guyer. Obere Schiedhalde» handelt es sich um ein hochwertiges und sorgfältig gestaltetes Buch, das eine Auslegeordnung des mittlerweile knapp zehn Jahre alten Umbaus und eine präzise Annäherung an das Haus und seine Geschichte bietet. Die reichhaltige, multiperspektivische Publikation schafft es, atmosphärische Stimmungsbilder mit einem technisch-analytischen Blick zu vereinen und die wertschätzende Haltung des Planungsteams gegenüber der Architektin und ihrem Werk zum Ausdruck zu bringen. Die Freude an der Weiterentwicklung des Bestands ist auf jeder Seite des Buchs deutlich spürbar und vermag auch interessierte Laien für das architektonische Juwel am Zürichsee zu begeistern.
Ludovic Balland, Emanuel Christ, Christoph Gantenbein, Sven Richter (Hg.): Lux Guyer. Obere Schiedhalde. Park Books, Zürich 2023. Gebunden, 208 Seiten, 89 farbige und 259 s/w- Abbildungen, 24.5 × 32.5 cm, ISBN 978-3-03860-253-8, Fr. 65.–
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