Podium «Learning from … (not Las Vegas)» – drei Städte, drei Strategien
Architekturwoche Basel
Las Vegas als ein bewässerter Fleck Wüste zeigt all die Schwierigkeiten einer zersiedelten Stadtgestalt auf. Bei einer Bevölkerungsdichte von rund 1800 Einwohnern pro Quadratkilometer (Basel-Stadt: 5300) entstehen weite Distanzen, die wegen fehlender öffentlicher Verkehrsmittel mit dem Auto überbrückt werden. In der Betrachtung von Denise Scott Brown und Robert Venturi von 1968 galt Las Vegas als streifenartig ausgedehnte «Nicht-Stadt», entlang derer sich Parkplätze und «falsche» Fassaden vor Kirchen, Hotels, Casinos und Bars aufreihten. Kurz: Das zersiedelte Las Vegas verkörpert ein Gegenbeispiel zu gelungener Stadtentwicklung.
In Anlehnung an das berühmte Zeitdokument der Forschungsgruppe fand im Zug der ersten Architekturwoche Basel unter dem Titel «Learning from … (not Las Vegas)» ein Austausch unter der vordersten Riege an Stadtplanenden aus Barcelona, Basel und Charleroi (B) statt. In 20-minütigen Erklärungen nahmen die drei Vertretenden Stellung zur derzeitigen Situation und zur künftigen Planung in ihren jeweiligen Städten.
Beat Aeberhard, Kantonsbaumeister des Kantons Basel-Stadt, machte den Anfang. Mireia Peris vom Àrea Metropolitana de Barcelona (AMB) folgte, am Schluss sprach Paolo Ruaro aus Charleroi. In einer daran anschliessenden Diskussionsrunde wurde deutlich, dass die Herausforderungen, vor denen die drei Regionen stehen, in unterschiedlich starker Ausprägung dieselben sind: Alle Stadtgebiete müssen eine Antwort finden auf Megatrends wie Bevölkerungswachstum und Migration, Digitalisierung, Klimawandel, Ressourcenknappheit und zunehmende soziale Ungleichheit innerhalb einer Postwachstumsgesellschaft.
Der Umgang mit diesen dringenden Themen könnte jedoch kaum diverser sein. Bei gleicher Problemstellung entwickelten die drei Gebiete völlig andere Herangehensweisen und städtebauliche Strategien zur Implementation der eigenen Vorhaben. Die Hauptqualität der Unterhaltung lag im Erkennen einer Lösungsvielfalt, und es stellte sich zugleich ein Verständnis dafür ein, wie lohnenswert ein solcher Erfahrungsaustausch ist, um die eigene Haltung zu hinterfragen und neue Impulse zu erhalten.
Dreiländermetropole Basel
Basel als eine Stadt mit drei Ländergrenzen, deren Daseinsgrund der Rhein ist, erlebt momentan eine starke, um nicht zu sagen drastische Transformation. Der 2018 revidierte Zonenplan geht bis 2035 von einem Bevölkerungsanstieg von 25 000 und einem Beschäftigungszuwachs von 40 000 Personen aus. Durch den intensiven überregionalen Austausch konnte in der Vergangenheit eine ausgeprägte soziale Vielfalt entstehen. Gleichzeitig erhöht sich über das Wachstum einer diversen Gesellschaft der Druck auf die Leistungsfähigkeit der Stadt hinsichtlich eines attraktiven Wohn- und Arbeitsorts, der alle sozialen Gruppen gleichermassen integriert.
Basels reiches baukulturelles Erbe steht einer von mehreren international tätigen Pharmaunternehmen geprägten Forschungslandschaft gegenüber. Das Ergebnis ist eine stark in die Höhe wachsende Innenstadt sowie eine Reihe von Entwicklungsgebieten an den Stadtgrenzen. Im Zug der Entwicklungsvision 3land erfährt derzeit unter anderem der Basler Norden eine grosse Veränderung. An der Grenze zu Deutschland soll das mit seinen 300 000 Quadratmetern grösste Entwicklungsgebiet der Schweiz, klybeckplus, in den kommenden Jahren vollständig transformiert werden.
Die Versicherungsfirmen Swiss Life und Central Real Estate (neu: Rhystadt) erwarben 2019 das Areal, das nicht länger für die industrielle Produktion der Chemiebetriebe der BASF und von Novartis benötigt wurde. Der 2017 verabschiedete Masterplan von Diener & Diener Architekten mit Projekthorizont 2040 visioniert einen lebendigen und sozial durchmischten Stadtteil. Das derzeitige Planungsvorhaben sieht jedoch eine weitgehende Tabula rasa der bestehenden Bausubstanz mit Ausnahme des Erhalts weniger Industrieikonen als Entschädigung vor.
An der französischen Landesgrenze passiert Ähnliches auf dem Gewerbe- und Industrieareal VoltaNord/Lysbüchel oder dem BaseLink-Areal in Allschwil. Die Idealvorstellung geht von einer Zusammenarbeit über die Landesgrenzen hinweg aus. «Ein lebendiges Basel entsteht durch Partizipationsprozesse mit der Bevölkerung, um schrittweise identitätsreichen, öffentlichen Raum zu gestalten», teilt Beat Aeberhard mit. Entwicklungsgebiete sollen zu «städtischen Laboratorien» werden, in denen zukunftsweisend auf der bestehenden Substanz weitergebaut wird. All das sind an sich gute Absichten.
Ob die Stadt das Versprechen der in anfänglichen Partizipationsprozessen entwickelten Vorstellung stark durchmischter und identitätsreicher Quartiere einhalten kann, steht noch in den Sternen. Die derzeitigen Planungen lassen bei beträchtlichen Abrissvorhaben eher gewinnoptimierte Immobilienentwicklung und daraus resultierende Gentrifizierungsprozesse befürchten.
Beispiel Barcelona
In Barcelona wird mittels eines sechsjährigen Masterplans bei ähnlichem Zeitrahmen ein sehr viel weiterer Betrachtungsraum ins Auge gefasst. Die Metropolregion Barcelona ist ein Zusammenschluss von 36 Städten und Gemeinden, dem die katalanische Hauptstadt und weitere umliegende Ortschaften angehören. In diesem Gebiet leben mehr als drei Millionen Menschen. Dementsprechend umfassend ist die städtebauliche Strategie. Eine wesentliche Transformation liegt im Bereich grossstädtischer Alleen, die Barcelona mit seiner Umgebung verbinden. Aus Fussgängerperspektive betrachtet stellen sie derzeit städtische Barrieren dar. Künftig sollen sie als Adern des öffentlichen Verkehrs zur Vernetzung eines polyzentrischen Stadtsystems beitragen. Wo heute mehrspurige Fahrbahnen schwer passierbare Schneisen in die Stadt treiben, werden bald schon Tramspuren, Fahrradwege, breite Fussgängertrottoirs sowie reduzierte Kraftfahrzeugspuren die breiten Alleen miteinander teilen.
In Kombination zu diesem neuen Transportnetzwerk ist eine Ausweitung der bestehenden Grünräume zu «grünen Korridoren» vorgesehen. Zur Sicherung der Ökosystemleistung und Abmilderung der bedrohlichen Auswirkungen des Klimawandels treten in Zukunft gesetzliche Vorgaben in Kraft, über die sich Barcelona verpflichtet, die Grünflächen bis 2030 um einen Quadratmeter pro Einwohner zu vergrössern. Damit ist der effektive Anteil an öffentlicher Freifläche pro Kopf höher als die nationale Anforderung. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird jeder Stadt empfohlen, pro Person mindestens neun Quadratmeter städtische Grünfläche bereitzustellen.
Die dritte grossmassstäbliche Planungsstrategie sieht die Implementierung eines neuen Zonenplans vor. Die Zuordnung unterschiedlicher Funktionen zu einzelnen Gegenden soll soziale und betriebliche Durchmischung fördern. Über den Mix verschiedener Nutzungen wie Wohnen, Arbeiten und Produktion erhofft sich die Metropolregion ausgewogene, lebendige und wettbewerbsfähige Quartierstrukturen. So werden je nach Bereich bestimmte Aktivitäten verhindert, geschützt oder garantiert. Gesamthaft betrachtet gibt der beschriebene Masterplan einen übergeordneten rechtlichen Rahmen zukünftiger Stadtentwicklung vor, um begrenzte Flächen und Ressourcen langfristig zu schützen.
Zugleich ist der Plan aber auch Teil eines Prozesses, innerhalb dessen öffentliche Beteiligung erfolgreich positive Veränderung hervorbringt. Europaweit als Vorbild für partizipative Demokratie gilt beispielsweise das Projekt einer transparenten Internetplattform namens Decidim, auf der die Bevölkerung über konkrete Themen abstimmt, Ideen diskutiert und Kooperationen organisiert. Auf Ebene der einzelnen Gemeinden werden Bürgerentscheide schliesslich konkret umgesetzt.
Charleroi: einst «hässlichste Stadt der Welt»
Paolo Ruaro, Baumeister der belgischen Stadt Charleroi mit derzeit 600 000 Einwohnern, beschreibt eine völlig andere Art städtischer Neuerfindung. Als ehemaliger Anziehungspunkt von Fabrikarbeitenden einer bis in die 1950er-Jahre boomenden Kohleindustrie erlebte die Stadt zunächst einen grossen Bevölkerungszuwachs, was wiederum zu weit zersiedeltem Umland führte. Im Zuge der Deindustrialisierung und der darauffolgenden Arbeitslosigkeitswelle in den späten 1960er-Jahren erlitt Charleroi eine Imagekrise und galt sogar einige Zeit als «die hässlichste Stadt der Welt» (BBC News).
Antwort auf den desolaten Zustand ist der 2014 eingesetzte Masterplan mit dem Titel «Die Ufer von Charleroi». Die Stadt lanciert eine grossmassstäbliche Werbekampagne, um das in Verruf geratene Bild der Stadt wieder aufzupolieren. Im Unterschied zu Barcelona, das mit einer hohen Dichte zu kämpfen hat, soll in Charleroi erneutes Bevölkerungswachstum stimuliert werden. Ziel ist die Förderung eines attraktiven Stadtzentrums bei gleichzeitiger Vermeidung weiterer Zersiedelung.
Die Planung sieht drei Zeithorizonte mit unterschiedlichen Eingriffstiefen vor. In einem ersten Schritt wurde zunächst mit einem Team von Grafikdesignerinnen und Grafikdesignern eine neue städtische Identität entworfen, um die Stadt in den Köpfen der Menschen als einen attraktiven Wohn- und Arbeitsort zu positionieren. Auch über die Organisation traditioneller sowie zeitgenössischer Kulturveranstaltungen sollen Menschen in der Umgebung von Charleroi auf das neu interpretierte Image des Orts aufmerksam gemacht und davon angezogen werden.
Charleroi erhofft sich über diese Strategie eine Neuprogrammierung der Stadt, in der wieder vermehrt Kreativschaffende, Studierende und Familien leben möchten. Ausserdem sollen Investoren angezogen werden, um bedeutende Gebäude in der Innenstadt zu sanieren, die wiederum eine Strahlkraft auf die unmittelbare Umgebung entwickeln. Die Umnutzung einer Bank zu einem Kreativzentrum und Theater ist nur ein Beispiel für eine solche als Akupunktur beschriebene architektonische Intervention innerhalb des Stadtgefüges.
Auf einer weiter gefassten Zeitschiene sind konkrete städtebauliche Eingriffe wie die Zugänglichmachung des Kanals Sambre oder die Schaffung neuer öffentlicher Freiräume im Gang. Über eine weitgehende Aufhebung von Autoparkflächen auf bestehenden Plätzen und Alleen werden diese Räume wieder für den Menschen und nicht das Auto nutzbar, um eine lebendige und durchmischte Innenstadt zu fördern.
Strategie, Akupunktur und der Schweizer Mittelweg
Die drei vorgestellten Strategien zur Bewirkung städtischer Veränderung hätten unterschiedlicher kaum sein können. Während in Barcelona laut Mireia Peris ein allumfassender Rahmenplan dazu dient, möglichst viele Strategien miteinzubeziehen und Entscheidungsprozesse zu vereinfachen, wird in Belgien die gegenteilige Strategie verfolgt mit der Begründung, dass «man nicht 20 Jahre warten könne, um einen Masterplan zu entwickeln», so Paolo Ruaro.
Während Charleroi auf spontan initiierte, integrative Prozesse Wert legt, herrscht in Basel der Einfluss der Grossinvestoren. In diesem Sinne schloss Beat Aeberhard mit der schweizerisch neutralen Aussage, dass «eine Antizipation der Zukunft ebenso wichtig sei, wie ihre Provokation». Zumindest sind sich am Ende alle einig, dass das Ideal einer Zukunftsstadt nicht dem amerikanischen Wüstenort gleichen soll.
Die Aufzeichnung der Veranstaltung finden Sie hier.