«Es war für uns nie ein Problem, dass alle an die frische Luft müssen.»
Sekundarschule Wallrüti, Winterthur
Ein Gespräch mit Schulleiterin Maya Steffen, Architekt Jens Studer und Stadtbaumeister Jens Andersen zu den Herausforderungen der Planung und ersten Erfahrungen im Betrieb.
Ein entscheidender Faktor im Wettbewerb für den neuen Klassentrakt des Schulhauses Wallrüti war der enorme Spardruck. Kann man also sagen, dass Not erfinderisch macht?
Jens Andersen: In diesem Fall stimmt das auf alle Fälle!
Jens Studer: Klar, wir hatten im Wettbewerb bei Weitem das kleinste beheizte Volumen. Ich denke, das Projekt wurde nicht wegen des Konzepts gewählt, sondern weil es bei den Kosten so gut abschnitt.
Maya Steffen: Das war nicht der einzige Grund. Wir fanden auch das Konzept sehr interessant, weil es den Bedürfnissen der Schule entspricht. Aus diesen beiden Gründen, den niedrigen Kosten und dem flexiblen Raumkonzept, wurde das Projekt am Schluss ausgewählt.
Andersen: Ich unterstütze das: Der Wettbewerb führte zu einer guten Architektur. Und er zeigte der Stadt Winterthur, wie sie haushälterisch mit den Kosten umgehen kann. Dies geschieht nicht in jedem Wettbewerb so ausgeprägt.
Es ist das erste Mal, dass das Architekturbüro Schneider Studer Primas ein Schulhaus entworfen hat. Inwiefern ist es von Vorteil, wenn die Architekten, ohne Vorbelastung oder Vorurteile, alles neu denken?
Steffen: Das kann ich nicht beurteilen, weil wir nie direkt zusammengearbeitet haben. Es waren immer andere Stellen dazwischen.
Andersen: Die Frage ist in sich nicht schlüssig. Wer einen Wettbewerb auslobt, ist bereit, ein Risiko einzugehen. Ein Wettbewerb schafft genau ebendiese Situation, in der es keine vorgegebenen Lösungen gibt. Wer Sicherheit möchte, wählt ein Planerwahlverfahren.
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Studer: Der Wettbewerb war selektiv, mit Präqualifikation. Das Risiko war minimiert: Es war klar, dass nur erfahrene Büros zugelassen sind.
Andersen: Die Lösung, die hier gewonnen hat, ist sehr speziell: Die innere Organisationsform bewirkt, dass das Gebäude über die balkonartigen Laubengänge stark mit dem Quartier interagiert. Das ist identitätsprägend für das Quartier.
Statt beheizter Erschliessungsflächen drinnen nun draussen Laubengänge, das ist radikal: Warum hat die Stadt Winterthur, damals noch unter der Leitung von Stadtbaumeister Michael Hauser, das gewagt?
Andersen: Alle haben gesehen, dass sie für wenig Geld viel Schulraum bekommen. Und dass es einen Mehrwert für das Quartier darstellt. Der Kompromiss war dann, dass die von der Stadt und vom Kanton ausgearbeiteten Empfehlungen für Schulbauten hier nicht alle erfüllt sind und neue Lösungen gesucht werden mussten. Das Abweichen von den üblichen Lösungen zieht sich als roter Faden durch dieses Projekt.
Die Suche nach diesen Lösungen führte vermutlich zu einem Mehraufwand?
Studer: Den hatten vor allem wir!
Steffen: Wir auch.
Studer: Wir hatten einen erheblichen Mehraufwand und konnten trotzdem Ideen wie die Do-it-yourself-Möblierung nicht realisieren. Vor allem wurde das Konzept der Freiluftschule mit öffenbaren Fensterwänden nicht so radikal umgesetzt, wie wir es uns gewünscht hätten.
Andersen: Alle hatten einen Mehraufwand: Dieser entstand dadurch, dass wir Lösungen ausserhalb dieses sogenannten Normbereichs suchten. Wir mussten dem Projekt einen Prozess hinterlegen, der dies leistet: dies war eine grosse Herausforderung.
In gewissen Phasen hat es sehr gut funktioniert, aber eben nicht immer. Architekten, Stadt und Nutzende müssen alle hinter den Lösungen und Ausnahmen stehen. Es wurde viel verhandelt.
Wie beurteilt die Schulleitung die Lösungen?
Steffen: Ich habe alle Wettbewerbseingaben gesehen und erinnere mich, dass ich Freude an den innovativen Ideen hatte: Dass wir aus den multifunktionalen Räumen Cluster bilden können, erschien mir vom ersten Moment an als eine coole Sache. Es ist sicher so, dass ich zu den «Early Adopters» gehöre und eher risikobereit bin, wenn es ums Ausprobieren von Neuerungen geht: Dass man alle Zimmer zusammenschalten kann und die Türen direkt nach aussen führen, sah ich ab dem ersten Moment als einen Mehrwert.
War sich die Jury hier einig?
Steffen: Ja, denn wir wussten, dass es im Rahmen der Lehrplanänderung multifunktionale Räume braucht. Was wir in der Jurydiskussion auch positiv bewertet haben, ist die Entfluchtung. Das Schulhaus lebt im Rhythmus der 45-Minuten-Lektionen und der Pausen dazwischen. Dann bewegen sich jeweils 450 Jugendliche und 50 Lehrpersonen gleichzeitig: Alle gehen zur gleichen Zeit nach draussen und wieder hinein. Es ist hier nicht wie in einem Verwaltungsgebäude, wo sich die Pausen irgendwie ergeben. Die Jugendlichen müssen in der Pause nach draussen, und diese Entfluchtung ist hier sehr einfach gewährleistet, weil alle sofort draussen sind. Das war ein Riesenvorteil des Projekts gegenüber solchen mit nur einem Treppenaufgang, wo die Schwächeren oder Langsameren beinahe überrannt werden, wie das bei grossen Gruppen von Jugendlichen passieren könnte. Hier kommt uns das Gebäude entgegen.
Ist es nie ein Problem, dass alle in der Pause und für den Zimmerwechsel nach draussen müssen?
Steffen: Nein. Dass alle in der Pause rausgehen, ist so üblich. Es war für uns nie ein Problem oder überhaupt ein Thema, dass alle an die frische Luft müssen. Wir hatten schon im Vorgängerbau drei separate Klassentrakte. Auch die Lehrpersonen gingen, wenn sie das Zimmer wechselten, oft ins Freie. Es gab nicht einmal eine überdachte Verbindung. Sich eine Jacke anzuziehen, um zum Kopierer zu kommen, war auch früher kein Problem. Aber dass die Zimmer jetzt alle beieinanderliegen und verbunden werden können, das ist ein Vorteil!
Wo lag also die Herausforderung, wenn das alles nicht neu ist?
Steffen: Es gab immer wieder Entscheidungen, was zu tun sei, wenn wir ausserhalb der üblichen Schulbaunormen oder Empfehlungen lagen. Es brauchte die Schulleitung beinahe permanent an den Sitzungen für dieses Bauprojekt. Beispielsweise wenn es um die fehlenden Fenstersimse oder Garderoben ging: Da mussten wir klären, welche anderen Massnahmen die Bedürfnisse der Sekundarschülerinnen und -schüler abdecken können.
Studer: Weil es keine Fenstersimse gibt, haben wir Rollkorpusse entworfen, die unten Stauraum bieten und oben als Stehpulte funktionieren. Diese Möbel kann man unterschiedlich im Raum platzieren. Mit den Rollkorpussen können Zonen abgetrennt werden. Dauernd einen Fenstersims entlang der Fassade zu bilden, würde der Idee dieses Schulhauses aber nicht entsprechen. Wichtig ist auch zu verstehen, dass es nur in den Eckklassenzimmern ausgeschiedene Gruppenräume gibt. Ansonsten sind diese Gruppenräume den Klassenzimmern zugeschlagen, die hier 90 m² statt der üblichen 72 m² gross sind.
Ihr wart euch wohl bewusst, dass eure Wettbewerbseingabe einige Konventionen über Bord wirft.
Studer: Ja, klar.
Hat euch der Sieg also überrascht?
Studer: Ja, wir waren sehr überrascht. Der Entwurf für das Schulhaus Wallrüti ist eines unserer High-Risk-Projekte. Meistens landen wir mit solchen Projekten nicht auf dem ersten Platz. Wir konnten den Wettbewerb nur dank einer besonderen Konstellation gewinnen. Die grosse Herausforderung kam erst nachher, als wir jene Leute überzeugen mussten, die es ansonsten gewohnt sind, die [kantonalen] Schulbaunormen für Brüstungsarbeitsplätze, kilometerlange Garderoben und Korridorerschliessungen eins zu eins umzusetzen.
Aber ihr wusstet wohl, dass ihr euch damit werdet auseinandersetzen müssen?
Studer: Nein, das war mir nicht bewusst, nicht in diesem Ausmass. Ich habe erwartet, dass wir hier, zumindest teilweise, auf mehr Offenheit stossen.
Steffen: Das deckt sich mit meinen Erwartungen. Ich hatte auch gehofft, dass man den anfangs innovativen Geist weiterverfolgen kann.
Studer: Wir hätten es begrüsst, wenn die Nutzerinnen und Nutzer mehr eingebunden worden wären. Bezüglich der öffenbaren Fensterwände wurde unser Konzept wirklich verhindert. Mit dem Vorwand der Brüstungsarbeitsplätze wurden statt der Faltfenster Schiebefenster eingeführt. Dies war aber ein Herzstück dieses Projekts, dass man die Klassenzimmer vollständig öffnen und das Innen und das Aussen verschmelzen kann. Wenn das Grün einmal richtig wächst, bis über die Brüstungen, ist man hier sehr nahe an der Natur und der frischen Luft.
Andersen: Bezüglich der Behörden möchte ich hier etwas anfügen. Als Amt für Städtebau und Hochbauamt übernehmen wir bei öffentlichen Bauten jeweils die Bauherrenvertretung. Üblicherweise fällt uns dies leicht. Mit eurem Projekt allerdings habt ihr der Verwaltung viel Flexibilität abverlangt. Es hat eine Weile gedauert, bis wir uns zurechtgefunden haben: Es war wohl nicht allen gleichermassen und früh genug klar, welchen Grad an Innovation dieses Projekt hat.
Ist es nun ein Learning für die Verwaltung, dass ein Projekt mit einem solchen Innovationsgrad die gängigen Strukturen überfordert und ein Begleitgremium bräuchte? Schliesslich war allen Beteiligten bewusst, dass diese Idee ausserordentlich ist.
Studer: Das war von Anfang an klar, auf den ersten Blick. Ich war bei der Beurteilung der Wettbewerbsprojekte zwar nicht dabei, aber ich denke, das war auch der gesamten Jury klar.
Steffen: Nein. Ich glaube, das ist einer der Kernpunkte: Wir haben das Projekt wegen der Cluster im Innern und wegen der Entfluchtung gewählt.
Die Gänge aussen fanden wir super, und die Kosten waren ein starkes Argument. Aber der Jury war auch von Anfang an klar, dass die öffenbaren Fenster für den Betrieb nicht zwingend sind. Im Betrieb ist es zu laut, wenn alles offen ist.
Studer: Es würde funktionieren, wenn man es will.
Steffen: Für uns hatte dieser Aspekt keine Priorität. Wir haben nicht verstanden, dass es aus architektonischer Sicht so wichtig war.
Andersen: Dieses Fazit ist für uns ein Learning. Unsere Prozesse funktionieren im Allgemeinen gut, die Nutzer sind aber selten beteiligt. Das haben wir hier gelernt, dass wir bei grösseren Bauprojekten die Nutzer bei wesentlichen Entscheidungen immer und auch schon in früheren Projektphasen dabeihaben sollten.
Gibt es auch ein Learning, den Planungsprozess flüssiger zu gestalten?
Andersen: Ein anderes Learning ist der Projektstart. Hier hätte es eine Zwischenphase zwischen Wettbewerb und Umsetzung gebraucht: Man hätte sich in einer Analyse darüber klar werden sollen, wo die Herausforderungen liegen. Stattdessen haben wir einfach zu planen begonnen, wodurch es unterwegs immer wieder diese Zwischenschritte gab, ich sage jetzt nicht Unfälle, eher: Zwischenstopps. Wir haben oft zu spät gemerkt, dass wir einen neuen Lösungsweg einschlagen müssen. Dies müssten wir beim nächsten Mal vorwegnehmen.
Jens Andersen ist seit 2017 Stadtbaumeister in Winterthur. Er begleitete die Projektierung und Ausführung des Schulhauses Wallrüti als Bauherrenvertreter. Zuvor war er Stadtbaumeister und Leiter Stadtplanung in Schaffhausen. Als Architekt arbeitete er davor in Architekturbüros und einer grossen Immobilienfirma.
Maya Steffen ist seit 2010 Schulleiterin in Winterthur. Sie begleitete schon den Neubau Zinzikon und eröffnete diesen 2015. Dann folgte die Begleitung des Neubaus Wallrüti seit dem Wettbewerb 2016. Im Sommer 2022 fusionierten die Sekundarschulen Lindberg und Wallrüti und bezogen gemeinsam den Neubau.
Jens Studer ist Mitgründer des Architekturbüros Schneider Studer Primas. Das Büro beschäftigt sich vor allem mit Wohnungsbau, z. B. mit den Zürcher Siedlungen Ringling (nicht realisiert) und Holunderhof. Dank dem Erfolg im Wettbewerb für das Schulhaus Wallrüti von 2016 realisierte das Büro sein erstes Schulhaus.