Spu­ren­si­che­rung in Bei­rut

In Beirut, der Hauptstadt des Libanons, verschwinden unaufhaltsam die Spuren, die der Bürgerkrieg von 1975 bis 1990 in der Stadt hinterlassen hat. Der Versuch, kriegsversehrte ­Architektur als Stätten der Mahnung zu erhalten, erweist sich als Kampf gegen Verwertungsinteressen und Geschichtsverdrängung.

Publikationsdatum
15-01-2012
Revision
01-09-2015

Über Nacht kann auch das «Ei» verschwunden sein; ein ehemaliges Kino nahe dem Place des Martyrs, dem historischen Zentrum der Stadt. 1968 wurde es nach Plänen des libanesischen Architekten Joseph-Philippe Karam errichtet, als Teil des Beirut City Center, eines multifunktionalen Gebäudekomplexes mit Ladengalerie, Büros und Wohnungen. Den Kosenamen «Ei» erhielt es aufgrund seiner eigenwilligen ovalen Form, mit der Karam versuchte, eine ästhetisch ­befriedigende Antwort auf eine damals geltende Vorschrift zu finden, die das Über­bauen von Kinosälen untersagte. 1975 flammte der Bürgerkrieg in Beirut auf und machte die Innenstadt für 15 Jahre zum Niemandsland. Vom Beirut City Center liess der Krieg nur das «Ei» stehen, das 1994 in den Besitz des Immobilienkonzerns Solidere geriet; dessen Gründer und Hauptaktionär war der seinerzeit amtierende Ministerpräsident Rafiq Hariri. Dem Unternehmen wurde in einem wohl weltweit einmaligen Vorgang der komplette Stadtkern für den Wiederaufbau übertragen – sämtliche Eigentümer innerhalb des 42 ha grossen Areals wurden enteignet und mit Solidere-Aktien entschädigt. Seitdem versucht der Konzern, das Baurecht für das Land, auf dem sich das Kino befindet, möglichst profitabel zu veräussern. Dies bedeutet auch, dass er an den Verkauf keinerlei Auflagen zur Erhaltung des Kinos knüpfte. Heute besitzt die Olayan Group, ein saudischer Investor, die Lufthoheit. Erst im Juli 2011 kursierte das Gerücht, die Gruppe würde das «Ei» in Kürze abbrechen. Fachleute und Aktivisten streiten jedoch für seinen Erhalt: Der Bau ist nicht nur ein Juwel aus der Blütezeit der libanesischen Moderne, sondern auch eines der wenigen Gebäude im Stadtzentrum, die noch sichtbar vom Krieg gezeichnet sind. Das «Ei» hält so das Gedenken an das dunkelste Kapitel in der Geschichte des Landes wach.

Verdrängte Erinnerung

Im Libanon neigen die gesellschaftlichen Akteure dazu, die Erinnerung an den Bürgerkrieg zu verdrängen. Und in den Aktivitäten des Immobilienkonzerns Solidere zeigt sich das besonders drastisch: Um Beiruts Stadtkern zur exklusiven Arbeits- und Wohnwelt höherer Einkommensklassen aufzuwerten, betrieb der Konzern einen radikalen Kahlschlag der alten Bausubstanz und tilgte fast alle Kriegsspuren. Die «kollektive Amnesie» ist eine Folge der Sinnlosigkeit des Krieges, meint der libanesische Soziologe Samir Khalaf. Zudem habe die Gewalt keine Sieger hervorgebracht und sei in einen brüchigen Frieden gemündet, womit sich auch die anhaltende Retribalisierung des Landes erklären lasse, so Khalef. Bis heute verhindere dies eine nationale Würdigung der Kriegsopfer. Der Plan für einen Garten der Vergebung an der Place des Martyrs erscheint in diesem Kontext nur als ein weiteres Sedativum. Mit üppiger Flora deckt der Entwurf der US-amerikanischen Landschaftsarchitektin Kathryn Gustafson schmerzhafte Erinnerungen gnädig zu: Statt Ruinen wird man pittoreske Ausgrabungsfunde aus der Römerzeit antreffen. Dabei sind es physische Zeugnisse und Orte des Zeitgeschehens, die sich als Verkörperung von Erinnerungen im Gedächtnis festsetzen, wie der deutsche Geschichts­pädagoge Bernhard Hoppe in Bezug auf ­historische Stätten der NS-Zeit feststellte. ­Sowohl das Gedächtnis des Individuums als auch das von Kollektiven bedarf einer topografischen Gliederung, um zuverlässig zu funktionieren, so Hoppe. Laut der US-amerikanischen Geografin Karen Till lassen authentische Schauplätze Gefühle wie Schuld und Wut zum Ausdruck kommen und ermöglichen so «konstruktives Vergessen».

Der vertikale Friedhof

Ein solch auratischer Ort ist für die Architektin Joumana Ghandour Atallah1 die Ruine des Hotels «Holiday Inn» am westlichen Rand des Beiruter Stadtzentrums. Zu Kriegsbeginn kämpften christliche und propalästinensische Milizen erbittert um die Kontrolle des Gebäudes. Dabei hatte das vom Franzosen André Wogenscky und seinem libanesischen Kollegen Maurice Hindié entworfene Hotel erst kurz zuvor den Betrieb aufgenommen. Der Beseitigung der Kriegsspuren widersetzt sich die 26-stöckige Ruine heute allein durch ihre Grösse. Sowohl ein Abbruch als auch eine Erneuerung gelten als kostspielig und riskant. Gegenwärtig benutzt lediglich die ­Armee das «Holiday Inn» – als Unterstand für ihre Panzer. Ghandour Atallah hatte dagegen schon in den 1980er-Jahren die Idee, den Bau in ­einen vertikalen Friedhof, in ein riesiges Regal für Urnen, zu verwandeln. Von oben auf die Stadt blickend, sollten die Trauernden den Verlust ihrer Angehörigen mit Beiruts Niedergang in Verbindung bringen. «Vor allem aber sollte es eine Grabstätte für alle Religionen sein», betont Ghandour Atallah, die die Überwindung religiösen Sektierertums als unabdingbar für den gesellschaftlichen Heilungsprozess betrachtet.

Vom Wohnhaus zur Kriegsmaschine

Dem Engagement der Beiruter Architektin Mona Hallak ist es zuzuschreiben, dass mit dem 1924 vom libanesischen Architekten Youssef Aftimos errichteten Wohnhaus Beit Barakat2 zumindest ein authentischer Ort der Erinnerung bleibt. «Ich kam nach Beirut zurück und sah, dass Solidere die ganze Innenstadt zerstört hatte», so Hallak. «Das war der Schock meines Lebens. Ich ging auf die Suche nach Bausubstanz, die noch zu retten war, und fand das Beit Barakat.» Das Gebäude liegt rund einen Kilometer südlich des Place des Martyrs, direkt an der ehemaligen «Green Line» zwischen Ost- und Westbeirut. Es war im Krieg ein Unterschlupf für Heckenschützen der christlichen Milizen. Davon zeugen Schiessscharten, Sandsäcke und Wandgraffiti in seinem Inneren, aber auch die Schäden durch Beschuss an der Fassade. Die Architektin stiess aber auch auf das Hab und Gut eines Zahnarztes, der dort bis zum Kriegsausbruch wohnte und arbeitete. Für Hallak die Hinterlassenschaft einer Zeit, in der Religionen und Milieus friedlich koexistierten. 1997 konnte Hallak in letzter Sekunde den Abbruch des Gebäudes verhindern, und mit Unterstützung der italienischen und der französischen Botschaft brachte sie die Stadt 2009 dazu, es zu kaufen. Bis 2015 wird das Haus in ein Kulturzentrum und Stadtmuseum umgewandelt. Die Utensilien des Zahnarztes, aber auch die Spuren und Markierungen des Krieges werden darin integriert. Das Beit Barakat wird zum Beit Beirut und möge sich, so Hallak, als Ort etablieren, an dem die Beirutis ihre Stadt endlich schätzen lernten.

Schreckensszenario Totalsanierung

Pädagogische, künstlerische und aktivistische Interventionen verhinderten, so Karen Till, dass historische Orte auf ihre physische Substanz reduziert würden. In der Vergangenheit bot gerade das «Ei» Raum für aktive Aus­ein­andersetzungen mit der Geschichte. Die Off-Kultur-Szene nutzte das Kino für Veranstaltungen, die auch die Bewältigung des Krieges thematisierten. 2010 zeigte das Feel Collective, ein Zusammenschluss von Künstlern, Architekten und Designern, dort seinen Vorschlag für eine Zukunft des Kinos: In zwei Hälften geteilt, soll es aufs Meer gebracht und dort als Denkmal wieder zusammengefügt werden. «Damit wollten wir die Debatte um ein nationales Kriegsgedenken neu anstossen», sagt Feel-Collective-Mitglied Maxime Hourani. «Und das ‹Ei› von privatem zurück auf öffentliches Gelände bringen.» Hourani fände es gut, wenn das ehemalige Kino in das Eigentum der Stadt überginge – im Tausch gegen Ersatzbauland. Der Inhaber Solidere beteuert, man setze sich dafür ein, den Bau zu erhalten. Es gebe Entwürfe, die ihn in das am Standort vorgesehene Grossprojekt integrierten. Das sind vage Aussichten, denn auch eine Renovierung droht das «Ei» seiner gegenwärtigen Bedeutung zu berauben, es zum sinnentleerten Accessoire zu degradieren. Doch es ist nicht unwahrscheinlich, dass nicht etwa der Protest von Experten und Aktivisten das Kino vor der Totalsanierung oder gar vor der Planierraupe rettet, sondern die Abkühlung des überhitzten Beiruter Immobilienmarktes – oder ein neuer Krieg.

Anmerkungen

  1. Die Gespräche mit Joumana Ghandour Atallah, Mona Hallak und Maxime Hourani führte Oliver Pohlisch
  2. Informationen zum Beit Barakat: http://en.wikipedia.org/wiki/Beit_Beirut

Weiterführende  Literatur

  • Bernhard M. Hoppe: «Die ‹Kraft-durch-Freude› - Anlage Prora, Rügen», in: Asmuss Hinz (Hg.), Historische Stätten aus der Zeit des Nationalsozialismus. Orte des Erinnerns, des Gedenkens und der kulturellen Weiterbildung , Peter Lang Verlag, Berlin 1999
  • Samir Khalef: «On Collective Memory, Central Space and National Identity», Vortrag im Rahmen des Symposiums «Beirut: Civil Pleasures, Civil Wars» am Centre of Contemporary Culture of Barcelona, 5.–7. Juni 2005. Download unter: http://www.publicspace.org/en/text-library/eng/a023-on-collective-memory-central-space-and-national-identity
  • Karen E. Till: «Artistic and activist memory-work: Approaching place-based practice», in: Memory Studies, Januar 2008, Vol. 1, No. 1, S. 99–113
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