Stoff zum Nach­den­ken

Im Neuthal im Zürcher Oberland verknüpft eine Sonderausstellung die Textilgeschichte der Schweiz mit der globalen Modeindustrie. Nachhaltig und mit einfachen Mitteln realisiert, vermittelt die räumlich gelungene Inszenierung eine Vielfalt an Wissen und animiert dazu, den eigenen Kleiderkonsum zu reflektieren.

Publikationsdatum
23-09-2024

Das Areal Neuthal liegt eingebettet in die ländliche Umgebung des Zürcher Oberlands. In einer ehemaligen Spinnerei zeigt das Museum Neuthal die Industrialisierung und die Geschichte der Textilindustrie, die die Region und weite Teile der Schweiz rund 200 Jahre lang geprägt hat. Auf verschiedenen Geschossen ist der Produktionsprozess für ein Stück Stoff anhand noch funktionierender historischer Maschinen erlebbar. 

Dies auch dank der vielen freiwilligen Mitarbeitenden, die die globalen Entwicklungen der Textilindustrie der letzten 60 Jahre in ihrem Berufsleben miterlebt haben und ihre Erfahrungen und Geschichten mit den Besuchenden teilen. Aktuell richtet sich das Vermittlungsangebot in erster Linie an Familien und Schulen.

Frühzeitig involviert

An diesem geschichtsträchtigen Ort ist bis zum 26. Oktober 2025 die Sonderausstellung «mode macht geld» zu sehen. Diese schlägt eine Brücke zwischen der Textilindustrie der Schweiz und der heutigen globalen Modeindustrie, deren Auswirkungen wir alle im Kleiderschrank spüren. Gleichzeitig fungiert die Ausstellung als eine Art Zwischennutzung, denn die ehemalige Spinnerei wird in den nächsten Jahren als bedeutender Zeitzeuge der industriellen Entwicklung des Zürcher Oberlands zu einem Museum für Industriekultur, Geschichte der Textilindustrie und Sozial- und Wirtschaftsgeschichte umgestaltet. 

Das Architekturbüro Ernst Niklaus Fausch Partner projektiert die Instandsetzung der Fabrikbauten sowie die Umbauten der Infrastruktur, während raumprodukt die Szenografie und Häusler + Weidmann die Konzeption der Vermittlung des neuen Museums verantworten. 

Diese beiden Büros sind es auch, die zusammen mit der Museumsleitung und der Redaktorin Katharina Wehrli die Sonderausstellung konzipiert und realisiert haben. Raumprodukt wurde sehr früh in die Ausstellungskonzeption involviert. Nach einem thematischen Briefing durch das Kuratorenteam erarbeitete raumprodukt einen Gestaltungsvorschlag, den sie im gegenseitigen Dialog weiterentwickelten. Die ursprüngliche Idee ist deshalb sehr nah an der realisierten Umsetzung.

Erzählkette als Leitfaden

Die Ausstellung sei eine «Low-Low-Budget-Produktion», meint Innenarchitektin Antonia Banz von raumprodukt im Gespräch, weshalb sie und alle weiteren Projektbeteiligten sich hinsichtlich Planung und Realisation nach der Decke strecken mussten. Doch angesichts der Dringlichkeit des Themas sei es ihnen wichtig gewesen, die Ausstellung realisieren zu können. Denn die Mode­industrie, angetrieben von Fast Fashion, produziert Kleidung schneller und billiger als je zuvor. Und der Modekonsum wächst rasant: 150 Milliarden Kleidungsstücke werden pro Jahr weltweit produziert – doppelt so viele wie 2012. 

Doch hinter dieser schnellen Produktion stehen Fragen: Wer sind die Gewinner und Verlierer dieses Systems? Welche Konsequenzen hat der steigende Modekonsum, und wie wirkt sich dieser auf die Umwelt und die Gesellschaft aus? Wer zahlt den wahren Preis für Fast Fashion? Wie finden wir neue Wege für einen nachhaltigen Umgang mit Kleidern? 

Die Ausstellung veranschaulicht diese Fragen entlang der gesamten Wertschöpfungskette – vom Baumwollanbau über die Konfektion und das Marketing bis hin zur Entsorgung oder Weiterverarbeitung von Kleidung. Historische Bezüge wie die Sklavenarbeit für die Gewinnung von Rohbaumwolle, die in der Schweiz verarbeitet wurde, und die Entwicklung der Textilindustrie in der Schweiz seit dem 19. Jahrhundert verankern diese globale Perspektive in der Schweizer Geschichte und eröffnen den Besucherinnen und Besuchern neue Einsichten.

Textilindustrie und Kleiderkonsum im Fokus

Die Ausstellung im Neuthal richtet sich in erster Linie an Familien, Jugendliche und Schulklassen. Die Wertschöpfungskette inszenierten Antonia Banz und die Visuelle Gestalterin Angela Reinhard als eine Art Erzählkette. Um die Säulen des historischen Industriebaus entfaltet sich die Ausstellung leporelloartig und veranschaulicht die Geschichte mittels zwei Erzählsträngen entlang von Texten, Infografiken und grossformatigen Bildern, die die riesigen Mengen an produzierten Textilien spiegeln.

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Ein Erzählstrang zeigt die Textilindustrie, der andere unseren Umgang mit Kleidern. Die Grundstruktur bilden Metallrahmen. Darin sind die grossformatigen Bilder ganzflächig eingespannt. Weitere Elemente bilden die Basis für eine Informationsvermittlung auf Ebenen unterschiedlicher Tiefe. Der Einstieg ins jeweilige Thema ist damit über Bilder oder Texte möglich: Auf Tafeln aus Kartonwabenplatten gibt es ikonografische monochrome Bilder, kurze Texte, Zahlen und Fakten, zusätzlich durch Infografiken visualisiert. Die entsprechenden Inhalte wurden von der NGO Public Eye zur Verfügung gestellt. Die Tafeln lassen sich drehen, sodass eine räumliche Transparenz innerhalb der Ausstellung entsteht. Bänder mit den wichtigsten Botschaften, die zwischen den Säulen des Saals gespannt sind, symbolisieren die Verknüpfung der Themen innerhalb der Wertschöpfungskette. Entlang der Fenster und als Abgrenzung zum Innenraum werden die historischen Bezüge auf grossformatigen, leicht durchscheinenden Informationsträgern vermittelt.

Vielfalt an Erkenntnissen

Die Ausstellung wurde nicht nur äusserst kosteneffizient, sondern auch nachhaltig umgesetzt. So stammen die Metallrahmen von einer früheren Ausstellung. Das knappe Budget stellte die Ausstellungsmacherinnen vor einige Herausforderungen, führte aber gleichzeitig zu kreativen Lösungen. Grosse Bildschirme oder Touchscreens findet man hier zwar nicht, doch das Thema wird durch andere Mittel eindrucksvoll vermittelt. An drei Stationen im Raum laden interaktive Drehräder die Besucherinnen und Besucher dazu ein, aufgeworfene Fragen zu diskutieren. Stoffballen in Drahtgestellen verdeutlichen, wie viele Kleidungsstücke eine Person in der Schweiz jährlich entsorgt. 

Parallel dazu laufen auf kleinen Bildschirmen Werbespots für Mode, wie sie uns täglich in den sozialen Medien begegnen – ein starker Kontrast, der einen, wie vieles andere in der Ausstellung, nachdenklich zurücklässt. Raumprodukt betont, dass es dem Team auch wichtig war, mögliche Handlungsoptionen aufzuzeigen. Diese sind auf den Tafeln mit einem Herzsymbol markiert.

Sonderausstellung: mode macht geld
Museum Neuthal, Im Neuthal 6, Bäretswil


Zeitraum Planung
Juni 2023 – April 2024

Eröffnung
Mai 2024

Grundfläche (SIA 416)
240 m2

Kosten (BKP 2)
60 000 Fr. 

Auftraggeber
Museum Neuthal
Textil- und Industriekultur

Innenarchitektur / Szeno­grafie / Visuelle Gestaltung
raumprodukt, Zürich; Antonia Banz, Mitglied VSI.ASAI.

Projektleitung 
Nora Baur, Museumsleiterin Museum Neuthal 

Kuration / Texte
Katharina Wehrli; Jacqueline Häusler, Ruedi Weidmann ­(Häusler + Weidmann)

Inhaltliche Beratung
David Hachfeld, Public Eye

Digitaldruck
Flexpo, Spreitenbach

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