Wohnraum Turm – Renaissance einer Form der Verdichtung
Editorial «Vertikales Wohnen»
In die Höhe zu bauen ist nichts Neues. In der Höhe zu leben ist jedoch nicht ohne. Und dennoch erleben Wohnhochhäuser in der Schweiz seit einigen Jahren eine Renaissance. Was sind die Gründe für diesen Aufschwung? Sind Hochhäuser die Antwort auf die RPG-Revision des Bundes? Was hält die Schweizer Bevölkerung von dieser Wohnform und dem damit verbundenen Lebensstil?
Während des Schweizer Baubooms in den 1960er-Jahren entstanden in den Randgebieten der Städte zahlreiche Hochhäuser wie Le Lignon in Genf oder das Lochergut in Zürich. Die damals modernen Gebäude boten günstigen Wohnraum, verloren aber durch die entstehenden sozialen Probleme schnell an Wert: Die hohe Bevölkerungsdichte und die fehlende soziale Durchmischung führten zu einer Häufung von Schwierigkeiten und Konflikten in diesen Vierteln.
Heute jedoch kommen in Metropolen und deren Umland wieder viele Wohnturmprojekte auf. Hochhäuser sind zum Symbol eines neuen urbanen Lebensstils geworden und entsprechen dem Wunsch vieler Menschen, trotz dem zunehmend begrenzten Raum in der Stadt zu leben. Tatsächlich ist jedoch die Frage der Bodennutzung in der Schweiz alles andere als einfach, und die letzte Revision des Raumplanungsgesetzes RPG unterstützt dieVerdichtung nach innen, um eine rationellere und massvollere Nutzung des Wohnraums zu gewährleisten. Das vertikale Bauen ist da eine interessante Alternative zum horizontalen Bauen, doch das allein kann nicht der Grund für den Boom sein, den Hochhäuser gegenwärtig erfahren.
Wohntürme bieten eine neue Wohnform, die an Infrastrukturen angebunden ist und deren Struktur sich allgemein als flexibler und anpassbarer erwiesen hat als die eines Einfamilienhauses. Demnach entspricht diese Typologie eher den Bedürfnissen heutiger Haushalte – sie umfassen oftmals weniger Personen, sind manchmal bunt zusammengewürfelt und schätzen die Nähe zu städtischen Dienstleistungen.
In unserer zweiten digitalen Themenreihe (die erste, «Prada Experience», befasste sich mit der Beziehung zwischen Mode und Architektur) untersucht espazium.ch die Funktion von Türmen in der zukünftigen Stadtentwicklung und versucht, die paradoxe Haltung der Bevölkerung gegenüber diesen Projekten zu verstehen. Dafür lassen wir sechs Expertinnen und Experten aus den verschiedenen Sprachregionen und aus den Bereichen Architektur, Wirtschaft, Politik und Städtebau zu Wort kommen. Ihre oftmals widersprüchlichen Aussagen zeichnen ein umfassendes Bild des In-die-Höhe-Bauens in der Schweiz und wägen Vor- und Nachteile einer Wohnform gegeneinander ab, die in der Bevölkerung noch immer polarisiert. Bis jetzt stand die öffentliche Meinung der Verdichtung in die Höhe in der Tat eher skeptisch gegenüber, zugleich widersetzte sie sich jedoch der Ausdehnung der Städte und der Zersiedelung der Landschaft. Diese widersprüchliche Haltung erschwert die Planung der zukünftigen Entwicklung des Stadtgebiets und zwingt Planerinnen und Planer, nach Kompromissen zu suchen.
Was auch immer man davon halten mag: Es liegt nahe, dass das vertikale Bauen im Wohnungsbau eines der Stadtentwicklungsmodelle der Zukunft sein wird. Abgesehen von den technischen Herausforderungen, die Wohnhochhäuser mit sich bringen, schaffen sie neue Stadtzentren, in denen Infrastrukturen und Dienstleistungen zusammenlaufen. Es ist jedoch unabdingbar, sich von der Assoziation von Wohntürmen mit dem Bild einer beengenden, abgeschotteten und berüchtigten Vorstadt zu lösen, um die Typologie in ein anderes Licht zu rücken: als Chance der Verdichtung, der Integration und der Schaffung neuer Lebensweisen innerhalb der Stadt.
Tania Perret studiert seit 2015 Architektur an der ETH Zürich. Nach ihrem Bachelorabschluss 2018 absolvierte sie ein mehrmonatiges Praktikum bei espazium.ch, in dessen Verlauf sie das Dossier «Vertikales Wohnen» zusammenstellte. Heute führt sie ihr Studium weiter und arbeitet gelegentlich in der Redaktion mit.
Alle Artikel des Dossiers «Vertikales Wohnen»
Wohnraum Turm – Renaissance einer Form der Verdichtung, Tania Perret
Hochhauswohnen im Wandel der Zeit, Eveline Althaus
Video 01 – Antoine Hahne, architeckt, Pont12, Lausanne
Video 02 – Paolo Poggiati, Landschaftsarchitekt, Bellinzona
Video 03 – Maria Lezzi, Direktorin des Bundesamts für Raumentwicklung (ARE)
Turm und Wolkenkratzer. Eine kurze Geschichte des Hochhauses, Matteo Moscatelli
Video 4 - Heinrich Degelo , architekt, Basel
Video 5 – Fredy Hasenmaile, Managing Director bei der Credit Suisse
Video 6 – Etienne Räss, Bauingenieur und Stadtplaner, Leiter von La Fabrique de Malley