Zum Thea­ter­turm von Ori­gen auf dem Ju­lier­pass

Leserbrief

Zum Beitrag von Charles von Büren über den roten Theaterturm auf dem Julier ist ein Leserbrief eingegangen.

Publikationsdatum
27-06-2019

Der ausgezeichnete Beitrag von Charles von Büren (vgl. «Rotes Holzzeichen» in TEC21 18/2019) zum roten Theaterturm auf dem Julier lässt architektonisch und ingenieurmässig nichts zu wünschen übrig: Wirklich gut gemacht. Ich gestatte mir trotzdem eine «kulturelle» Ergänzung, da der besondere Turm von Giovanni Netzer – Leiter, Intendant, Regisseur, Gesamtunternehmer von Origen, des international bekannten Bündner Festival Cultural – als Kulturstätte konzipiert worden ist, in welcher Theater, Ballett und Konzerte gegeben werden sollen. Aber nicht im üblichen Sinn, sondern als Gesamterlebnis. Netzer möchte nämlich bei allen Veranstaltungen die Natur mit insbesondere zwei Aspekten einbeziehen: Mit der umgebenden, wilden, rauen Bergwelt und mit dem Lauf der Sonne, dem Zeitlichen.

So beginnen alle Vorstellungen im Turm vor Sonnenuntergang und decken die anschliessende Zeit bis zur völligen Dunkelheit ab. Durch die darum so grosszügig konzipierten, «romanischen» Fenster erlebt das Publikum neben den Sängern, Schauspielerinnen und Tänzern dauernd den Tag, der zur Neige geht. Dies macht jede Aufführung im Origen-Turm zu einem anderen, immer aber ganz speziellen Erlebnis, das in keinen normalen Theatern zu haben ist, da sie so gebaut sind, dass man optisch und akustisch von der Aussenwelt möglichst vollständig abgeschirmt ist, d.h. sich voll auf das Bühnengeschehen konzentrieren kann und muss.

Die Idee Netzers führt allerdings hin und wieder zu Ablenkungen, die störend empfunden werden können: Ein umwerfend schöner Sonnenuntergang direkt sichtbar oder im Rücken, eine Gämse, die sich durch die tief verschneite Winterlandschaft kämpft … Diese Optionen sieht Netzer bewusst vor: Sie relativieren unsere aktuelle Welt, indem sie diese in ein Grösseres, in ein Übergeordnetes einbetten.

Bisher ein einziges Mal ist sich Giovanni Netzer nicht ganz treu geblieben: Um 04.45 h fuhr am 6. Dezember 2018 der Postauto-Shuttle von Chur weg und brachte das Publikum hinauf in den innen nur mit Kerzen beleuchteten Turm … Anschiessend erlebte man den aus der völligen Dunkelheit der Nacht entstehende Tag mit dem herrlichen Konzert «Ritorate».

Mit der einbrechenden Dunkelheit bezieht Netzer auf geniale Art auch das Zeitliche mit ein, indem man sich bewusst wird, wie diese «vergeht» – oder am Morgen neu «entsteht». Das Zeitliche wird vielleicht auch mit der Tatsache einbezogen, dass Netzer nur eine temporäre Baubewilligung – von nicht weniger als 17 Ämtern ! – für diesen einmaligen, «vergrösserten Shakespeare-Theaterturm mit mobiler Bühne» bekommen hat: Sie läuft Ende 2020 aus – dann muss der Turm wieder abgebaut werden.

Die übergrossen Rundfenster, der zehneckige runde Grundriss, aber auch die Hin- und Rückfahrt zu den Vorstellungen, die man gezwungenermassen im Postauto machen muss (im Ticketpreis inbegriffen mit Zusteigemöglichkeiten zwischen Chur und dem Engadin) und der kurze Transfer aus dem Bus in den Turm – dabei wird man live mit der rauen Bergwelt konfrontiert, es entsteht Lust zum Wandern, oder man stapft zwischen hohen Schneemauern zum Eingang … – führen zu einem Gesamterlebnis, das absolut einmalig ist, indem Kultur, Natur, Witterung , Architektur und Zeit miteinander verschmelzen.

Fritz Zollinger, Küsnacht

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