Unterm Radar
Die Ausstellung «Unterm Radar» im Schweizerischen Architekturmuseum zeigt investigative Architektur: Nicht das Bauen steht im Fokus, sondern das Sichtbarmachen von Realitäten, die im Alltag oft verborgen bleiben. Neben Themen wie Menschenrechtsverletzungen und Ausgrenzung werden Möglichkeiten aufgezeigt, mit der Zersiedlung des Territoriums umzugehen.
Bomben hängen von der Decke, Bruchstücke von Grenzmauern und Zäunen, Darstellungen eines Schlachthauses, ein die gesamte Raumhöhe einnehmender Stacheldrahtzaun, dahinter ein Kubus aus MDF – er stellt die weltweit kleinste, standardmässig 2.3 m2 messende iranischen Gefängniszelle dar. Die Umrisslinien um diese werden grösser: Die Schweizer Zelle misst 12 m2. Bei diesen im Schweizerischen Architekturmuseum inszenierten Elementen handelt es sich um Fragmente aus dem «Handbook of Tyranny», in dem der österreichische Architekt Theo Deutinger Elemente der Macht mit präzisen Zeichnungen aufnimmt und damit quasi die Bauentwurfslehre von Ernst Neufert (1936) um sichtbare und unsichtbare Funktionen politscher Dimension ergänzt, die unser räumliches Umfeld zunehmend bestimmen.
Auf dem Boden: Grundrisslinien des Kasseler Internetcafés; an der Wand: Diagramme und Projektionen. Sie veranschaulichen die Ermittlungsarbeiten zum NSU-Mord an Halit Yozgat. Die von dem israelischen Architekten und Publizisten Eyal Weizman gegründete Forschungsagentur «Forensic Architecture» wird oft von Betroffenen oder NGOs beauftragt, Tatverläufe zu überprüfen. Meistens handelt es sich um Fälle, bei denen der umgebende Raum Aufschlüsse über den Tathergang geben kann. «Forensic Architecture» trägt unterschiedliches Material zusammen, erstellt 3-D-Simulationen und räumliche 1:1-Modelle. So werden topografische, akustische und chronologische Zusammenhänge und Fakten dargestellt, die trotz Fotografien oder Zeugenaussagen zuvor im Unklaren blieben.
Klimawandel und Zersiedlung
Ein weiterer Blick richtet sich auf bekannte Territorien: einerseits die Alpen mit ihren schmelzenden Gletschern am Beispiel der «sich wandelnden Grenze» zwischen Österreich und Italien, andererseits der «Urban Sprawl» am Beispiel von Amerikas verschwenderischem Landverbrauch. Verfolgt Studio Folder den Grenzverlauf zwischen Italien und Österreich, der ehemals entlang der Wasserscheide verlief, sich durch die Gletscherschmelze jedoch verschoben hat, so betrachten Kwong von Glinow die konservative Welt des amerikanischen Katalog-Einfamilienhauses. Mit ihrer «Smuggling Architecture» erarbeiten sie Eingriffe, um aus dem landfressenden Standardbau mit seinen räumlich absurd zusammengesetzten Modulen qualitative, verdichtete Wohnformen herzuleiten. Grosse Modelle veranschaulichen die Interventionen.
Verdichtung und Abhängigkeit
Auch in der Schweiz werfen mehrere Büros und Forschungsgruppen einen generalistischen Blick auf den uns umgebenden Raum. Kunik de Morsier illustrieren in «Parallel Sprawl» die Zersiedlung in der Schweiz und im Kosovo, die zwar zu unterschiedlichen Zeiten begann – hier in den 1950er-Jahren, dort erst 1999, nach dem Krieg –, jedoch dieselben Folgen zeitigt: zunehmenden Verkehr und Energieverbrauch. Das Laboratoire Bâle erarbeitete die Studie «Swiss Lessons», die den prognostizierten Bevölkerungszuwachs von heute 8.5 auf 14 Millionen im Jahre 2048 darstellt.
«Sand and Labour» von Architecture of Territory veranschaulicht die Abhängigkeiten des boomenden Stadtstaats Singapur von importierten Ressourcen und ausländischen Arbeitskräften – die ausbeuterischen Mechanismen und Umgangsformen bleiben der Bevölkerung räumlich verborgen. Derweil beschäftigt sich Philippe Rahm in «Meterological Architecture» mit dem uns ganz direkt umgebenden Raum, um die unsichtbaren, klimarelevanten Dimensionen in die Planung zu integrieren.
Die Auseinandersetzung wird durch die Kuratoren geschickt angeregt und räumlich inszeniert. So unterschiedlich die Ansätze auch sind – allen gemein ist die Beschäftigung mit Problemen, Fragestellungen und Aufgaben, die sie mit den Mitteln und Werkzeugen der Architektur ermitteln und vermitteln. Eine Vielzahl an Publikationen und Videos ermöglicht eine vertiefte Beschäftigung mit den jeweiligen Forschungen. Ein Besuch der Ausstellung lohnt sich.
«Unterm Radar» im S AM läuft noch bis zum 15. März 2020.
Öffnungszeiten: Di, Mi, Fr 11–18 Uhr ; Do 11–20:30 Uhr; Sa, So 11–17 Uhr
Weitere Infos, auch zum Begleitprogramm, gibts hier.