«Die Mö­gli­ch­keit der 1:1-Op­ti­mie­rung ist sel­ten»

Die abgetreppten Hochhäuser von F. Hoffmann-La Roche in Basel strecken sich im Duett empor. Die Dopplung birgt ein Optimierungspotenzial, das im Bauwesen selten der Fall ist. Martin Stumpf von wh-p Ingenieure deckt es im Gespräch mit Clementine Hegner-van Rooden auf.

Date de publication
27-12-2023


Clementine Hegner-van Rooden: Der 205 m hohe und 50-geschossige Bau 2 ist die Weiterentwicklung des ersten Hochhauses vis-à-vis. Es ist der grosse Bruder des kleineren, 2015 fertig gestellten, 41-geschossigen Bau 1 und aktuell das höchste Gebäude der Schweiz. der Entwurf stammt von Herzog & de Meuron. Die Gebäude sehen aussen sehr ähnlich aus, man könnte meinen, es handele sich um «copy and paste». Ist dem so?


Martin Stumpf: Dem ist nicht so. Im Gegenteil, quasi hinter den Kulissen hat das gesamte, wiederum gleiche Planungsteam viel optimiert. Bei ungefähr gleich grosser nutzbarer Fläche von ca. 85’000 Quadratmeter, grösserer Höhe und grösserer Schlankheit des Gebäudes wurde weniger Material verbaut. Insbesondere weniger Beton, und weniger Bewehrungsstahl – beides nämlich um jeweils etwa 8 Prozent weniger. Dabei erfolgte die Materialeinsparung ohne Reduktion der Stabilität oder Standsicherheit und ohne, dass sich dies optisch am Gebäude zeigen würde. Was eigentlich schade ist, sich aber bei den Investitionskosten auszahlt, in der Baugeschwindigkeit niederschlägt und auf die Flexibilität des Innenraums positiv auswirkt.


Man kann hier also sagen, dass der Bau 1 als Prototyp für Bau 2 gedient hat?

Ja, ganz eindeutig. Man hat vom Bau 1 vieles übernommen und manches verbessert, was man während der Bauausführung 1 als Optimierungspotenzial erkannt hat. Die Tragstruktur des Bau 1 ist ein Skelettbau mit einem aussteifenden Erschliessungskern. Schon bei der Planung des Tragwerks von Bau 1 bestand die Leitidee darin, ein klar strukturiertes und durchgängiges Tragwerk zu entwickeln, das eine maximale Flexibilität für die Bespielung der Grundrisse erlaubt. Schliesslich ändern sich die Arbeitswelten stetig.

Noch während der Planung von Bau 1 haben sich die Anforderungen an die Arbeitswelten und damit die Grundrisse geändert. Das klare und reduzierte Tragwerk war allerdings kein Hindernis. Sämtliche Konzepte – für die Architektur, das Tragwerk, die technischen Installationen – konnten grundsätzlich übernommen und im Detail dennoch an vielen Stellen optimiert werden.

So auch die Erschliessungsschächte für die technische Installation, was letztlich zu einem insgesamt schlankeren und flächeneffizienteren Kern geführt hat. Oder die Lage und Geometrie der Aussparungen für die «Void»-Treppen, die eine vertikale Vernetzung der Mitarbeitenden ermöglichen. Sie sind jetzt noch besser auf das Tragwerk abgestimmt. Das sind alles vermeintlich kleine Verbesserungen, die am Ende aber doch zu Einsparungen führen – bezüglich Kosten, Materialverbrauch und Zeitaufwand. Diese Möglichkeit der 1:1-Optimierung ist im Bauwesen selten.


Konnte der Bau 1 auch bezüglich Schwingungsverhalten Erkenntnisse liefern?

Durch Messungen, die am fertiggestellten Bau 1 durchgeführt wurden, konnten wir das Schwingungsverhalten sehr genau analysieren, mit der statischen Berechnung vergleichen und die gewonnenen Paramater in die Bemessung des Baus 2 implementieren. So konnten wir den zweiten Turm, der eine Schlankheit von Kernbreite zu Höhe von 1:15 aufweist, ohne Outrigger und ohne Dämpfer bauen. Die Aussteifung des Bau 2 erfolgt lediglich über den Stahlbetonerschliessungskern. Das ist für ein solch hohes Gebäude etwas Besonderes.

Selbstverständlich waren trotzdem noch Untersuchungen im Windkanal notwendig, aber vor allem für die Beurteilung der Eigendämpfung war der Bau 1 äusserst hilfreich. Denn gerade die Dämpfung – also die Aussage darüber, wie schnell ein Gebäude infolge einer Schwingungsanregung durch Wind wieder in die Ruhe kommt – muss man meist viel tiefer ansetzen, als sie tatsächlich ist. Sie hängt ab von der Steifigkeit, von E-Moduli, von Baumaterialien, die gesamthaft kaum erfassbar bzw. nur grob abschätzbar sind. Hier hatten wir nun aber einen konkreten Vergleichswert, den wir rechnerisch einsetzen konnten.

Die Eigenfrequenzen beim Bau 2 liegen deutlich unter den Werten von Bau 1. Das liegt an der um ca. 30 Meter höheren Gebäudehöhe und an der Schlankheit des Kerns. Damit steigt die Empfindlichkeit für windinduzierte Schwingungen. Diese sind bei Hochhäusern meist der massgebende Lastfall, schliesslich sollen sich die Mitarbeitenden im Gebäude wohl fühlen. Falls die Gebrauchstauglichkeit dennoch nicht gewährleistet gewesen wäre, hätten wir immer noch mit einem Dämpfer nachrüsten können. Aber das war letztlich nicht notwendig – und spart einen siebenstelligen Investitionsbetrag.


Kann man aus den Messungen auch Erkenntnisse für andere Bauten gewinnen?

Nur bedingt. Jedes Gebäude hat unterschiedliche Konstruktionsprinzipien und bleibt eben doch ein Prototyp mit ganz eigenen Verhaltensweisen. Über Jahre oder gar Jahrzehnte Einzelteile zu optimieren, wie es beispielsweise in der Automobilindustrie geschieht, das ist im Bauwesen nicht allgemein möglich. Meist sind Bauherrschaften oder Investoren gar nicht daran interessiert, an einem fertiggestellten Gebäude Messungen durchzuführen. Die gleiche Bauherrschaft baut selten ein ähnliches Projekt sofort danach und unmittelbar nebenan nochmals auf. Ausserdem wird man bei jedem neuen Prototyp nie in jeder Disziplin das absolute Optimum erreichen, sondern immer nur gesamthaft das optimale für das Projekt.

Wir sagen, dass jedes Projekt seine «Schieberegler der Prioritäten» hat. Diese Projektprioritäten liegen immer wieder woanders. Das sind z.B. Anforderungen an die Architektur, an Kosten, Nachhaltigkeit, Materialverbrauch, Gebäudetechnik, Tragwerk, Bauzeit, Fassade und an die Sicherheit… Die Projektprioritäten für Bau 1 und Bau 2 waren seitens der Bauherrschaft aber als Leitziele von Anfang an klar definiert und für beide Bauten identisch. Das hilft als Grundlage für eine Weiterentwicklung der Arbeit sehr.


Inwiefern widerspiegelt sich denn das Tragwerk in der Architektur des Hochhauses? Denn auch dies ist Grundlage einer effizienten und optimierten Verknüpfung der Disziplinen.

Ein Hochhaus ist aus statischer Sicht ein Kragarm – also ein ganz einfaches statisches Grundsystem. Als vertikaler Stab betrachtet, widerspiegelt sich das Tragwerk also in der Form des Gebäudes. Architektur und Tragwerk gehören zusammen wie Melodie und Rhythmus in der Musik.

Wird dieser Kragarm nach der reinen Tragwerkslehre umgesetzt, so entsteht ein Kernquerschnitt wie beim 829.8 Meter hohen Burj Khalifa. Eine im Grundriss zentrisch platzierte Torsionsröhre mit drei statisch bestimmten und über die Höhe abgestuften Auslegern, die unten einen grossen Hebelarm für das Einspannmoment generieren. Bei diesen Bauhöhen bestimmt die Tragstruktur massgebend die Form des Bauwerks – deren statische Optimierung ist deshalb von grosser Bedeutung. Bei Hochhäusern unter 250 m muss das Tragwerk nicht diese Dominanz erhalten. Beim Burj Khalifa war die Fragestellung: wie muss ein Aussteifungssystem konstruiert werden, um maximal in die Höhe bauen zu können. Um einen solchen Höhenrekord ging es weder beim Bau 1 noch beim Bau 2.


Die Optimierung ist ein wertvolles Gut, wodurch material- und damit ressourcenschonenderes Bauen möglich wird. Half BIM ebenfalls dabei?

Sicher. Building Information Modeling wurde schon bei Bau 1 angewandt. Wegen der Wiederholungen, die Hochhäuser mit ihren vielen Etagen meist mit sich bringen, lag es nahe, viele Prozesse zu skripten. Wiederkehrend sind Fassadenelemente, Schienen, Einlegeteile für die Lifte, auch die Vorspannung und die Befestigung von Liften, auch Baustellenlifte, Krananbindungen. Selbstverständlich erfolgten auch die Planung der Technik, die Ausschreibungen, die Massenkontrolle sowie die Schalungs- und Armierungsplanungen mit BIM – soweit möglich mit Tablets auf der Baustelle, womit effiziente Kontrollen in frühen Phasen und Aktualitätskontrollen via Barcodes möglich waren.

Facility-Manager konnten mittels augmented reality und wir Planenden mit Hilfe von iRooms Planungsschritte vorwegnehmen und Schnittstellen optimieren. Die Koordinationsbesprechungen erfolgten über Bildschirme, auf denen live am Gesamtmodell gearbeitet wurde. Das sind produktive Sitzungen, die zu einer nahezu reibungslosen Planung führen. Wir können selbst mit eigens entwickelter Software den Planungsstand visuell darstellen und überprüfen. Wir können also immer den aktuellen Stand unsere Planerstellung und der statischen Berechnung abrufen. Es ist faszinierend, was BIM-Modelle mittlerweile leisten können.


Inwiefern spielte der Bau 1 im Modell eine Rolle?

Man hat zwar auch bei Bau 1 schon sehr viel mit BIM erarbeitet. Allerdings startete man damit 2009. Das ist heute – digital gesehen – eine Ewigkeit her. Unterdessen hat eine enorme technische Weiterentwicklung stattgefunden. Beim Bau 1 war ein Arbeiten im Gesamtmodell wegen der Kapazität der Rechner und des Datenvolumens technisch noch nicht möglich. Im Bau 2 sind alle Teilmodelle in einem Gesamtmodell implementiert, und die Modellpflege erfolgt jetzt durch Ingenieure und Ingenieurinnen, die eine gewisse Programmieraffinität haben. Die Statik und das Modell werden verknüpft – da hat sich alleine im letzten Jahrzehnt schon wahnsinnig viel verändert.


Auch der Beruf an sich?

Ich freue mich, dass er sich verändert. Ich darf mich als Bauingenieur ständig auf neue Aufgaben einstellen, Neues lernen, Bewährtes hinterfragen und Unbekanntes entwickeln. Seit einiger Zeit erstellen wir zum Beispiel in Konzeptphasen bereits Ökobilanzierungen. Ressourcenbewusstes Konstruieren und Technisieren ist zwar nicht neu – die Bauingenieure und Bauingenieurinnen der früheren Generationen haben zum Teil sehr beeindruckend gezeigt, wie Materialeinsatz und Tragwerk perfekt aufeinander abgestimmt sind. Aber das Interesse bei Bauherrschaften und Architekten ist zusätzlich gestiegen.

Wichtig ist, Tragwerke nicht masszuschneidern auf ein aktuelles Layout, was sich vielleicht schon während der Bauphase verändert. Vielmehr sollte man eine in allen Belangen klare Tragstruktur entwerfen – ob Hochhaus oder nicht. Wir sollten die Materialien behutsam einsetzen und robust strukturieren, architektonisch und statisch redundant. Dabei ist nicht ein einziges Material die Lösung, sondern gute Konzepte mit den jeweils dazu am besten geeigneten Materialien.


Sind denn hyperschlanke Kragarme, wie sie beispielsweise in New York City entstehen, optimierte Hochhäuser?

Das ist eine Frage der Definition. Aus Sicht der Statik und der Struktur sind die Gebäude absolut optimiert und eine tolle Ingenieursleistung. Allerdings sind gerade das Gebäude 432 Park Avenue oder der Steinway Tower – auch 111 West 57Th Street am Central Park – eher Prestigeprojekte, die durch ihre Schlankheit beeindrucken sollen. Wir Ingenieure und Ingenieurinnen sind aber auch dafür mitverantwortlich, sinnvolle, wirtschaftliche und ressourcenschonende Bauwerke zu erstellen. Das heisst auch, dass sie vernünftig und verhältnismässig abgestimmt sind auf ihren Kontext und dessen Anforderungen und Rahmenbedingungen.


Hatten sie Glück, dass Basel einen so tragfähigen Baugrund aufweist?

Das kann man so sagen. Tiefgeschosse sind für Hochhäuser günstig, da sie die Aufstandsfläche des Gebäudes meist vergrössern. Sie zu bauen ist aber sehr aufwendig und nicht besonders ressourcenschonend. Man bedenke nur schon den Aushub mitten in der Stadt, der abtransportiert werden muss. In Basel haben wir aber hochtragfähigen Baugrund. Das ist vorteilhaft für ein Hochhaus, denn es erzeugt hohe Lastkonzentrationen auf kleiner Fläche. Das Eigengewicht des Hochhausturms führt im Kern zu einer Art kostenlosen Vorspannung, und es erzeugt eine hohe Stabilität gegen Kippen. Im Lastfall Windfall entstehen nur geringe Zugkräfte.


Allerdings liegen die Reinach-Verwerfung und die Hercynische Verwerfung sehr nah und können als eines der aktivsten Erdbebengebieten im deutschsprachigen Raum für gefährliche Erdbeben sorgen.

Pauschal kann man sagen, dass Hochhäuser leichter für starke Erdbeben konzipierbar sind als gedrungene, niedrige schwere Gebäude. Hochhäuser sind statisch gesehen «weicher» als niedrige Gebäude. Daher entstehen im Falle eines Erdbebens im Tragwerk geringere Beanspruchungen. Schon der Bau 1 wurde für ein Beben ausgelegt, das weit über der Normung nach SIA liegt. Bau 1 soll auch bei einem Starkbeben wie von 1356 – dem bisher stärksten bekannten Erdbeben in Basel – noch tragsicher sein. In der Überzeugung, dass dies richtig und wichtig ist – Erfahrungen oder Messungen konnten wir diesbezüglich ja zum Glück nicht machen – wurde der Bau 2 ebenso konstruiert. Das Hochhaus ist für den Lastfall Erdbeben verformungsfähig gebaut. Das bedeutet, dass es sich duktil verhaltet und nicht spröde – also plötzlich – bricht. Bei starkem Wind – ein nicht massgebender Lastfall – sollte das Gebäude steif genug sein. Entsprechend ist die Tragkonstruktion auf Schubversagen bemessen.

Dazu gehört auch das Abstrahieren von Einwirkungen und der geübte Umgang mit sehr hohen Kräften. Nicht, dass diese Angst bereiten, denn Zahlen sind nicht entscheidend: Ob Regal oder Hochhaus, ihre Tragwerke funktionieren nach den gleichen Prinzipien. Es ist vielmehr die Frage der Bemessung und der Dimensionierung. Und es ist eine Frage der Kommunikation – wie vermittle ich, dass die Meganewton – also mehrere 1000 LKW – enorm grosse Bauteile bedingen, die im Tragwerk an ganz spezifischen Stellen ‘versorgt’ werden müssen. Mit rudimentären Konzeptskizzen, die wir mit den Planungsbeteiligten besprechen, gelingt es, Architektur, Innenarchitektur, Gebäudetechnik und Tragwerk aufeinander abzustimmen.


Auch dieses Vorgehen gehört zur Optimierung?

Richtig. Wir sollten als Planende weitsichtig denken, und als Bauingenieure und Bauingenieurinnen langlebige Tragkonstruktion für verschiedenste Nutzungen erstellen. ·

 

Massivbau in Skelettbauweise

 

Der Roche Bau 2 ist ein Massivbau aus Stahlbeton verjüngt sich von 32 m x 59 m im Erdgeschoss auf 32 m x 16 m im 49. Obergeschoss. Der Skelettbau besteht aus teilweise vorgespannten Stahlbetonflachdecken und Verbundstützen. Die Deckenauskragungen von bis zu 3.60 m und die grosszügigen Treppenausschnitte im Bereich der Kommunikationszonen können durch Vorspannung der betroffenen Deckenfelder realisiert werden. Der Bau wird durch zwei zentral im Grundriss angeordnete und nach oben abgetreppte Stahlbetonkerne horizontal ausgesteift, welche in den dreigeschossigen Kellerkasten eingespannt sind.

 

Die Kerne sind wie beim Bau 1 über Kopplungsriegel verbunden, die bei Starkbeben plastifizierende Sollbruchstellen darstellen. Dadurch gelingt es dem Planungsteam, die Tragkonstruktion gegen Windlasten ausreichend auszusteifen und gleichzeitig ein duktiles Tragverhalten im Falle eines Starkbebens zu ermöglichen. Die Fundation des Gebäudes erfolgt analog zum Bau 1 mittels eines kombinierten Pfahl-Platten-Fundaments mit in der Summe ca. zwei Kilometer Pfähle..

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