Ver­bin­dung und Versöh­nung

Erweiterung Primarschule, Mammern; Projektwettbewerb im offenen Verfahren

Die Thurgauer Gemeinde Mammern wächst – und damit auch die Anfor­derungen an die örtliche Schule. Gemeinde, Kirche und ­Schulbehörde waren sich jahrelang uneinig darüber, wie und wo die Primarschule er­weitert werden soll. Das Siegerprojekt der ARGE ekip / De Pedrini deckt nicht nur den Bildungsbedarf, sondern stärkt auch das Gemeinschaftsgefühl.

Date de publication
25-07-2024

Der Schulkomplex aus den 1980er-Jahren, entworfen vom Frauenfelder Architekturbüro Antoniol + Huber, ist einzigartig: Die vier aneinandergereihten Häuser mit pyramidaler Dachform und kaminartigem Abschluss prägen den Ausdruck der Anlage. Dazu gehört auch eine Mehrzweckhalle, die über eine «rue extérieure» mit dem Schultrakt verbunden ist. Das Ensemble steht in der nördlichen Hälfte des Schulareals an der Haupt­strasse. Im südlichen Teil bilden der Pausen- und Spielplatz sowie die Wiese wichtige Freiräume, sowohl für die Schule als auch für die Anwohnenden.

Nun bedarf der Schulkomplex einer Erweiterung, um der steigenden Schülerzahl und den Anforderungen des Lehrplans 21 gerecht zu werden, denn dafür war die Struktur des bestehenden Schul­trakts nicht ausgelegt und es fehlt an Gruppenräumen. Nach einer Testphase, in der die Kindergartenstufe sowie Schülerinnen und Schüler der 1. und 2. Primarklasse (Zy­klus 1) und der 3. bis 6. Primarklasse (Zyklus 2) altersdurchmischt den Unterricht besuchten, hat die Schule Mammern auf das Schuljahr 2023/24 das Zyklus-System definitiv eingeführt. Das neue Raumprogramm erfordert flexibel nutzbare Schulräume, die integrative und differenzierte Lehr- und Lernformen ermöglichen. Zudem soll die Schulraumerweiterung den Be-darf an familienergänzenden Ta­ges­struk­turen berücksichtigen.

Ein neues öffentliches ­Zentrum

Dass sich die ARGE ekip / De Pedrini rund um das Projekt «Rotkehlchen» intensiv mit der Geschichte des Orts auseinandergesetzt hat, zeigt sich in der geschickten Platzierung des schlanken Erweiterungsbaus an der nordöstlichen Ecke des Perimeters und in der durchdachten Gestaltung des Aussenraums. Der ehemalige Vorplatz an der Hauptstrasse, der einst die Hauptadresse der Schule bildete, wird zum ruhigen Innenhof. Die Schulanlage orientiert sich mit ihrem grünen Rücken nun klar gegen Süden zum geschützten Pausen­areal hin. Zusammen mit der benachbarten evangelischen Kirche und dem Pfarrhaus bilde der Projektvorschlag des Siegerteams ein grosses, zusammenhängendes «öffentliches Stras­sengeviert», so die Jury.

Von Norden her bleibt die Zufahrt zum Hartplatz bestehen, hinzu kommt lediglich ein untergeordneter Weg durch die Vorgartenschicht. Die Neugestaltung des Bereichs zwischen der Hauptstrasse und der durchgehenden nördlichen Gebäudeflucht zu einem mit einer Sockelmauer gefassten Grünraum wird von der Jury als konzeptioneller Befreiungsschlag bewertet: «Die feine Durchlässigkeit der Anlage, die erhöhte Verkehrssicherheit auf dem Schulweg und die Anbindung ans Dorf Mammern werden mit gezielten, selbstverständlich wirkenden Eingriffen gelöst.»

Städtebaulich schafft das Siegerprojekt ein überzeugendes neues Ganzes. Dies war besonders wichtig, da sich Schulbehörde, Kirche und Gemeinde über Jahre hinweg uneinig darüber waren, in welcher Form die Primarschule erweitert werden soll. «Rotkehlchen» vereint und bringt Harmonie zurück an diesen wichtigen öffentlichen Ort. Damit der Idee nun Taten folgen können, wird das «Trautheim» dem Ergänzungsbau weichen müssen. Das 1901 erbaute Wohnhaus beherbergt derzeit die Schulverwaltung im Erdgeschoss und darüber zwei Sozialwohnungen.

Die Nachbarin hat recht

Da die Gemeinde keine öffentlichen Landreserven mehr besitzt, war es naheliegend, eine mögliche Erweiterung des Schulkomplexes auf der benachbarten Parzelle im Besitz der Kirche zu erwägen. Diese verwies jedoch auf einen Entscheid der evangelischen Landeskirche, wonach der «Aufnahme von Land der Kirchgemeinde in den Planungsperimeter nur zugestimmt werden kann, wenn keine festen Hochbauten geplant sind», so Kirchenpräsident Rolf ­Meier. Die Kirchgemeinde sicherte der Schule schlussendlich 700 m2 Land entlang der Grundstücksgrenze zu, jedoch mit der Auflage, dieses nicht zu bebauen.

2021 testeten Lauener Baer Architekten in einer Machbarkeitsstudie fünf Varianten für einen möglichen Erweiterungsbau; zwei davon sahen diesen auf der Spielwiese vor. In ihrem Antrag an die Gemeindeversammlung im Juni 2022 fand die Bevölkerung klare Worte: Falls das Siegerprojekt einen Erweiterungsbau auf dem beliebten Freizeitareal vorsehe, finde dies wahrscheinlich nicht genügend Zustimmung und das Projekt Schulraumerweiterung würde abgelehnt. Es solle deshalb darüber abgestimmt werden, ob Pausenplatz und Spielwiese in den Perimeter des Architekturwettbewerbs aufgenommen werden. Weitsichtigkeit bedeute, auch bestehende Gebäude und deren Nutzen für die Schule zu hinterfragen.

Ein Rückbau der 1988 fertiggestellten und 2012 baulich angepassten Schulanlage von Anto­ni­ol​ + Huber stand nicht zur Debatte. Der Abbruch des «Trautheims» schien also die einzige sinnvolle Massnahme zu sein, um der Primarschulerweiterung den Weg zu ebnen. Sein Rückbau würde eine optimale Nutzung des Standorts ermöglichen, lautete das Fazit nach der Gemeinde­versammlung.

Das Schulhaus als Dorf

In der Aufgabenstellung hiess es schlussendlich: «Das bestehende Wohnhaus ‹Trautheim› an der Haupt­strasse kann abgebrochen werden. […] Die Aussenanlagen sollen in ihrer heutigen Qualität erhalten bleiben. Eine Neuordnung beziehungsweise Umlegung der Flächen auf dem Schulareal zugunsten einer guten baulichen Lösung ist je nach Konzept möglich.» Unter den fünf prämierten Projekten schlug der Beitrag «Windrad» von Moos Giuliani Herrmann Architekten als einziger vor, sämtliche Häuser bestehen zu lassen und der Schulanlage an der südlichen Parzellengrenze einen zweigeschossigen Ergänzungsbau gegenüberzustellen.

Der Projektvorschlag knüpft an das additive Grundprinzip des vorhandenen Schultrakts an, gruppiert vier gleiche Volumen jeweils um 90 Grad gedreht um die zentrale Erschliessungszone und gibt dem zweiten Obergeschoss einen asymmetrischen pyramidalen Dachabschluss. Trotz der erkennbaren Einteilung in Haussegmente entsteht ein verhältnismässig grosses Gebäudevolumen, das sich zwar in die Parzellenecke zurückzieht, aber die Spielwiese trotzdem einengt und den bestehenden Spielplatz verdrängt. Dieser spannt sich neu zwischen Erweiterungsbau und Pfarrhaus auf und trennt Letzteres räumlich ungünstig von der Kirche. Die Setzung des Schulhauses an den südlichen Rand der Parzelle entlastet die Hauptadresse an der Kantonsstras­se. Im Innern erlaubt die geschickte Organisation stockwerkweise flexible Raumnutzungen. Insgesamt schiesst der Projektvorschlag jedoch am Ziel vorbei, sowohl räumlich als auch funktional an das «Schuldorf» anzuschliessen, um auf pädagogischer Ebene zu überzeugen.

«Rotkehlchen» hingegen punktet auch mit seiner inneren räumlichen Organisation und entwickelt den Bestand in ein «Dorf mit Gasse» weiter. Faltwände im Erweiterungsbau brechen die starre Raumgliederung des bestehenden Schultrakts auf: Schulräume im Erdgeschoss lassen sich flexibel zusammenlegen und sowohl für schulische Nutzungen als auch für öffentliche Veranstaltungen und Vereinsanlässe nutzen. Der Hof kann von allen anliegenden Gebäudeteilen für Nutzungen – beispielsweise als Aussenklassenzimmer – einbezogen und frei bespielt werden. Bewusst lehnt sich die Erweiterung von ekip / De Pedrini in ihrem Ausdruck nur an denjenigen des Schultrakts an. Statt mit der Anmut des erhaltenswerten Bestands zu konkurrieren, reiht sich das neue Schulhaus ein und untermalt den einzigartigen Entwurf von Antoniol + Huber. Der wertvolle Aussenraum behält seine Qualitäten nicht nur bei, sondern wird weiter aufgewertet.

Das offene, anonyme Wettbewerbsverfahren soll zum bestmöglichen Resultat führen. Eine erfolgreiche Auslobung bedingt jedoch eine ausführliche, saubere und faire Erarbeitung der Wettbewerbsgrundlagen. Die Entstehungsgeschichte der Primarschulerweiterung Mammern zeigt, dass der konstruktive Austausch zwischen den beteiligten Parteien und der Bevölkerung unabdingbar ist, um ein optimales Ergebnis zu erreichen. In diesem Fall ist es nun besonders wichtig, dass alle an einem Strick ziehen und der Primarschulerweiterung in der Umsetzung nicht weiter im Weg stehen. Grünes Licht für den Abriss des «Trautheims» – Mammern darf sich auf eine herausragende Schulerweiterung freuen!

Jurybericht und Bilder auf competitions.espazium.ch

Rangierte Projekte

1. Rang, 1. Preis: «Rotkehlchen» 
ARGE ekip / De Pedrini, Zürich; Jodok Imhof, Landschaftsarchitekt, Zürich; SJB Kempter Fitze, Frauenfeld
2. Rang, 2. Preis: «commeditari» 
ARGE Can Peter Grothmann, Hamburg / Ahmet Kürkcü, Berlin; Kamila Grecka, Landschaftsarchitektin, Berlin
3. Rang, 3. Preis: «Zena» 
Aramis Vincenzi Architekt, Kilchberg; Parbat Landschafts­architekten, St. Gallen; IFEC, Rivera
4. Rang, 4. Preis: «Windrad» 
Moos Giuliani Herrmann Architekten, Diessenhofen; Chaves Biedermann Landschaftsarchitekten, Frauenfeld
5. Rang, 5. Preis: «sieben Äpfel» 
Enrico Garbin 2 Architetti, Lugano; Kesküla Erard Architecture du Paysage, Biel; Passera & Associati Studio d’Ingegneria civile, Lugano; Baubar, Mülligen; Salvatore Guzzo Architetto, Mailand

Fachjury

Donatus Lauener, Architekt, Frauenfeld; Jeanine Walther, Architektin, Zürich; Martin Klauser, Landschaftsarchitekt, Rorschach; Ueli Wepfer, Architekt, Neuwilen (Ersatz)

Sachjury

Anita Dähler-Engel, Gemeinde­präsidentin; Monika Ribi Bichsel, Gemeinderätin, Schulpräsidentin; Fabienne Egloff, Gemeinderätin (Ersatz)

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