«Schützen, was wir brauchen»
Der SIA unterstützt die Biodiversitätsinitiative. Mit Vorstandsmitglied Sarah Schalles hat er über die Wichtigkeit der Biodiversität gesprochen: Wie sie das Ästhetikbewusstsein verändert und inwiefern sie Zielkonflikte und Chancen für Planende darstellt.
Frau Schalles, am 22. September 2024 stimmen wir über die Biodiversitätsinitiative ab. Wieso ist Biodiversität wichtig?
Sarah Schalles: Wir vergessen häufig, dass wir Teil der Biodiversität sind, Teil des Ökosystems und diese Ökosysteme für uns unzählige Leistungen erfüllen.
Welche Leistungen sind das konkret?
Wir reden bei den Ökosystemleistungen von vier Leistungsgruppen. Das sind die bereitstellenden Leistungen: Also alles, was mit Ressourcen zu tun hat wie Nahrungsmittel, Wasser, Holz, Energieträger und Medizin. Dazu kommen regulierende Leistungen, die für Städte und Siedlungsräume wichtig sind – Wasser- und Luftqualität, Klimaregulierung sowie Minderung von Überschwemmungen. Biodiversität erfüllt aber auch kulturelle Leistungen, denn unsere Landschaft ist immer auch identitätsstiftend. Wir orientieren uns an ihr beim Entwerfen und Entwickeln einer Umgebung. Zuletzt sind die unterstützenden Leistungen zu nennen – Biodiversität hält unser Ökosystem zusammen und regeneriert es.
Welche dieser Leistungen sind für Planende relevant?
Man muss aufpassen, wir teilen gerne auf und ordnen ein. Die Einteilung in Ökosystemdienstleistungen ist menschengemacht, aber spiegelt die Realität nicht wider. Die Leistungen hängen zusammen und wir profitieren gesamthaft von ihnen.
Können Sie Beispiele hierzu nennen?
Offensichtlich sind die produktiven Leistungen des Bodens und die Bestäubung von Nutzpflanzen. Aber die Biodiversität ist für unser generelles Wohlbefinden und unsere Gesundheit fundamental. Im Stadtraum brauchen wir Biodiversität beispielsweise für die Umsetzung des Konzepts der Schwammstadt, damit Regenwasser bei Starkregenfällen versickert und gespeichert werden kann und die Verdunstungskühlung über die Vegetation schafft bei Hitzeereignissen Abhilfe. Hier ist die Biodiversität also zentral für die Anpassung an den Klimawandel.
Die Schweiz hat einen Frühsommer mit Starkregen hinter sich. Inwiefern kann Biodiversität vor Naturkatastrophen schützen und wie muss sie dafür ausgestaltet sein?
Biodiversität schützt unsere gebaute Umwelt und somit auch uns. Um Hitzeinseln zu mindern, brauchen wir Grünflächen, die vielfältiger sind als ein kurz geschnittener Rasen. Es braucht Wiesen und Bäume, die Schatten spenden und eine grosse Verdunstungsfläche aufweisen. Wir brauchen weniger mineralische Oberflächen in der Stadt und mehr Versickerungsflächen, die unsere Städte eben zu Schwämmen machen. Auch bei Fliessgewässer gilt: Je naturnaher sie sein dürfen und je mehr sie sich entfalten können, desto mehr Schutz bieten sie vor Hochwasser.
Wenn man Ihnen zuhört, dann bekommt man den Eindruck, dass bezüglich Biodiversitätsförderung noch viel passieren muss. Wie steht es in der Schweiz, insbesondere im Siedlungsgebiet?
Wir haben grosses Ausbaupotenzial. Es gibt zwar gute Ansätze, aber noch wenig Leuchtturmprojekte, die auf unterschiedliche Aspekte der Biodiversität eingehen, diese ganzheitlich konzipieren und vielfältige Räume, sogenannte «Milieus», schaffen. Wenn wir heute Grünräume gestalten, sind diese oft zu eindimensional und ungenügend vernetzt.
Können Sie das ausführen?
Egal ob Tier oder Pflanze, jede Art braucht eine Varietät an Milieus, um ihren Lebenszyklus zu durchlaufen. Wir Menschen brauchen auch mehr als eine Raumfunktion, um unsere täglichen Bedürfnisse zu decken und ebenso Freiräume, in denen wir uns bewegen können. Doch anderen Arten weisen wir häufig nur ein Habitat zu. Auch wenn Biodiversität bei einem Projekt mitgedacht wird, dann geschieht das häufig zu wenig funktional.
Was meinen Sie genau?
Wer zum Beispiel einen Teich anlegt, der regenerativ wirkt und zur Kühlung beiträgt, tut gut daran, an die Vögel zu denken, die die semiaquatischen Insekten wie Mücken oder Eintagsfliegen essen. Vielleicht bringt man dann gleich Nisthilfen für Vögel an der Fassade an. Man muss übergreifend denken und lernen, die Komplexität nicht herunterzubrechen, sondern ihr holistisch zu begegnen.
Da stellen sich für Planende ja einige Herausforderungen, wenn sie Biodiversität mitdenken wollen.
Wichtig ist, dass Biodiversität bereits beim Planungsstart funktional mitgedacht wird und dass man auf ihr beharrt. Das ist eine weitere Zutat, die man dem Topf zugibt. Als Planende suchen wir ja die Herausforderung. Darum sollten wir nicht vor der Biodiversität zurückschrecken, sondern uns auf das Thema einlassen.
Wieso ist dieses Beharren auf Biodiversität wichtig?
Weil sie häufig als erstes wieder rausfällt. Obwohl wir übergreifend von der Vielfalt profitieren, wird sie nur selten ökonomisch mitgerechnet. Wenn man Biodiversität von Beginn an miteinplant, müssen Leistungen wie zum Beispiel die Kühlung später nicht künstlich hinzugefügt werden. Man muss sich nur einmal im Sommer unter eine Bushaltestelle aus Glas oder Metall stellen und im Vergleich unter einen Baum, dann versteht man, was gemeint ist. Zudem lässt sich Biodiversität nicht weiterverrechnen; Bienen bezahlen keine Miete für die Quadratmeter, die man ihnen zur Verfügung stellt. Allerdings verlangen sie für ihre Arbeit auch kein Salär.
Wo sehen Sie Chancen für Planende, Biodiversität zu integrieren?
Wenn Biodiversität gut funktional eingeplant ist, dann ist später der Unterhalt der Flächen viel weniger problematisch, weil sich das Ökosystem selbst regeneriert und generiert. Das World Economic Forum erachtet den Biodiversitätsverlust als eines der fünf wichtigsten globalen Risiken. Es ist also dringend an der Zeit, dass die Biodiversität in der Planung mehr Gewicht erhält.
Aber es bestehen sicher auch Zielkonflikte, wenn beim Bauen die Biodiversität mitgedacht wird?
In dicht besiedelten Gebieten sind unsere Böden komplex. Teilweise ist es schwierig, Bäume zu pflanzen, weil der Unterboden voll ist mit Leitungen. Dann ist man plötzlich mit einer Komplexität konfrontiert, der man sich vielleicht zu Beginn nicht stellen will. Zudem verlangt das Mitplanen von Biodiversität nach einem neuen Ästhetikverständnis.
Sie meinen, wir brauchen mehr Mut zur Unordnung?
So würde ich das nicht formulieren. Aber wir mögen Gradlinigkeit und Grenzen. Alles hat seinen Platz, und es muss sauber aussehen. Hier hat sich zum Glück schon einiges getan. Man sieht heute in Städten vermehrt Nutzpflanzen, auch wenn nur in Pflanzkübeln. Anstatt Unordnung verlange ich nach einem Abbau von Grenzen. Biodiversität braucht keinen Zaun. Man muss sich überlegen, wie man verschiedene Milieus verbindet und welche Wege man wie anlegt, sodass nicht nur Menschen sich frei bewegen können, sondern auch andere Arten.
Gibt es Dinge, die man auf keinen Fall tun sollte, wenn es um Biodiversität geht?
Man sollte verhindern, Solaranlagen auf natürlichem Boden anzubringen. Da denkt man besser in horizontalen Schichten – Biodiversität gehört auf den Boden, Solarpaneele sollten darüber angebracht werden. Das ist sinnvoll sowohl für Technik wie auch für die Natur.
Gerade der Ausbau von erneuerbaren Energien wird häufig als Argument gegen die Biodiversitätsinitiative angeführt. Zu Recht?
Es freut mich, dass das Stromgesetz mit beinahe 69 Prozent angenommen wurde. Die Vorlage hatte es allerdings einfach, weil sie monetär legitimiert werden konnte. Der Nutzen von biologischer Vielfalt wird hingegen ökonomisch noch zu wenig mitgerechnet. Dennoch zielen beide Vorlagen auf die Lösung des gleichen Problems ab: Es geht um das langfristige Wohlergehen der Menschen und unserer Umwelt. Die Biodiversitätsinitiative ist darum eine wichtige Ergänzung zum Stromgesetz. Wir haben begriffen, dass beide zusammengehen. Und darum müssen wir schützen, was wir brauchen.
Am 20. August 2024 findet ein SIA-inForm-Kurs zu «Biodiversität im Siedlungsraum; Mehrwert planen, schaffen und messen» statt.
-> Weitere Informationen und Anmeldung: biodiversitaet-siedlungsraum.events.sia.ch