Ber­li­ner Na­ch­ver­dich­tung: Bes­chei­den­heit und Klasse

Zur Verdichtung städtischer Bebauungen haben Leonhard Clemens und Max Hacke einen schmalen Anbau entwickelt, der sich in Lücken fügen lässt und bestehende Wohngebäude über das Dach aufwertet. Der Prototyp in Berlins Prenzlauer Berg ist jetzt zu besichtigen. 

Date de publication
04-09-2024

Zuerst ging es nur um einen Dachausbau. Als die beiden Architekten das Haus begutachteten, interessierten sie sich aber gleich für eine Freifläche in der Verlängerung des Seitenflügels. Damit hier zusätzlicher Wohnraum entstehen kann, nahmen sie die Berliner Bauordnung unter die Lupe und strapazierten sie in verschiedener Hinsicht. 

Mehr als nur Fluchtweg

Auf der Grundfläche von nur 6 m × 9 m planten sie zwei prägnante Baukörper. Einen guten Teil davon nimmt das wie eine überdimensionierte Säule wirkende Treppenhaus ein, das die Verbindung und zugleich die Fuge zwischen Bestand und den sechs neuen Wohnungen im Annex bildet. Die vertikale Erschliessung ist schon allein beim Ausbau der Dachwohnungen als zweiter Fluchtweg notwendig. Allerdings wäre damit nur die direkt angrenzende Einheit versorgt. 

Für die dahinterliegenden Wohnungen, die sich über dem Vorderhaus befinden, fanden die Planer eine Lösung mit Umweg: Sie verlängerten das Treppenhaus um eine weitere Drehung bis auf das Dach. Von dort aus führt ein Steg zu einer luftigen Stahl-Gitterstruktur, die auf das ganze Vorderhaus aufgelegt ist und eine grosszügige Dachterrasse bildet. Jede Dachwohnung verfügt über ein türgrosses Oberlicht, das sich öffnen lässt und Zugang auf diese Gemeinschaftsebene bietet – von hier ist der zweite Fluchtweg dann gegeben. 

Licht und Luft

Der Grundriss in jeder der vier kleinen Wohnungen im Bestandsdach ist geprägt von dem Oberlicht und einer schiffsartigen Treppe, die zum Ausstieg führt. Der Innenausbau ist so solide wie schlicht: Die Böden sind mit einer fugenlosen Polyurethan-Beschichtung versehen, die Wände weiss gestrichen – die Paraderolle bleibt der spektakulären Weitsicht und dem wechselnden Tageslichteinfall überlassen. 

Dass auf diese Weise jedes Detail, das nicht sorgsam ausgeführt wurde, ins Auge sticht, ist wohl eher unter Luxusproblemen zu verbuchen. Der direkte Zugang auf die Dachterrasse mag dafür entschädigen. Durch das neue Treppenhaus ist die Ebene auch für die restliche Hausgemeinschaft zugänglich und bietet den von den Eigentümern gewünschten Ort für das soziale Miteinander. 

Das Maximum herausgeholt

Das Treppenhaus wirkt wie eine griechische Säule, die zwischen die Baukörper gesteckt wurde. Es ist von beiden Seiten zugänglich und dient auch als Erschliessung für die Wohnungen im Annex. Mit der geschickten Ausnutzung der Topografie stapeln sich hier auf den üblichen 22 Höhenmetern bis zur Traufe plus Dachgeschoss sieben statt den sonst üblichen sechs Etagen. 

Das, was man für die Wohnungstüren halten könnte, ist aus brandschutztechnischen Gründen erst der Zugang zu einem kleinen Vorflur, in dem sich eine notwendige Löschwasserentnahmestelle befindet – noch ein Trick in Sachen Auslegung der Bauordnung. 

Erst dahinter betritt man den privaten Wohnraum von 38 m2. Genau wie in den Dachwohnungen sind die Oberflächen und verwendeten Materialien einfach. Ein kluges Element ist eine vormontierte Küchenzeile aus Edelstahl, in die Spüle und Herd bereits integriert sind – in Deutschland ist das im Gegensatz zur Schweiz unüblich. Darüber und darunter lassen sich standardmässige Geräte und Küchenmodule problemlos ergänzen, ohne dass sie die Ordnung im Raum stören. 

Vorflur, innenliegendes Bad und eine Nische bilden die innere Schicht der Wohnung. Der nutzungsoffene Raum ist auf ein Südfenster ausgerichtet, vor dem sich ein unverschämt grosser Balkon erstreckt. Mit der Einbindung der Aussenräume entsteht trotz aller Kompaktheit eine grosszügige Wohnsituation. Die direkt verwendeten Materialien sprechen eine reduzierte, nachvollziehbare Designsprache, die trotz – oder wegen – aller Bescheidenheit Klasse hat. 

Neben dem Verzicht auf ein Kellergeschoss ist die Verwendung konventioneller und eigentlich verpönter Materialien wie Beton und Wärmedämmputz der Wirtschaftlichkeit geschuldet. Auch baurechtlich wäre die Verwendung von ökologischeren Alternativen wie Holz aufgrund der geltenden Brandschutzvorschriften nicht möglich gewesen.

Bestehendes zu hinterfragen lohnt sich

Nach einer langwierigen Planungsphase, in der die Planer um ihre Auslegung der baurechtlichen Bedingungen kämpfen mussten, kam durch die Pandemie auch die Bauphase zwischenzeitlich zum Erliegen. Während der Ausführung brachten die komplizierte Baustellenlogistik und das Einbringen der Materialien und Gerätschaften per Kran über das Vorderhaus in den engen Hof weitere Herausforderungen mit sich. Das hat neben den Baubeteiligten auch die Nerven der Hausgemeinschaft über viele Jahre strapaziert. Durch die Umstellung des gesamten Hauses auf das Fernwärmenetz und den Zugewinn der Dachterrasse profitieren auf Dauer aber nicht nur die neuen Mietenden, sondern alle Beteiligten von den Veränderungen.

Ziehen die Planer für sich Bilanz, würden sie diese Behauptung nur mit Einschränkungen unterschreiben, da ihr Aufwand hoch war. Umso mehr ist ihnen zu wünschen, dass das Beispiel als Prototyp Schule macht und auch andernorts zum Einsatz kommt, sodass Planung und Effekt in ein besseres Verhältnis kommen. 

Die gestalterische Kraft des Entwurfs liegt in der Dualität der zugefügten Baukörper: Ein Zylinder und ein Kubus, die sich im Kontext unterschiedlicher baulicher Voraussetzungen behaupten. Hervorzuheben ist aber auch der soziale Gewinn für eine Hausgemeinschaft durch die Dachterrasse. Und indem die Architekten bestehende baurechtliche Gegebenheiten hinterfragen, eröffnen sich Spielräume zur nötigen innerstädtischen Verdichtung. 

Weitere Infos
burohacke.com
lncl.de

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