Der Sch­wei­zer Wol­ken­kra­tzer

Editorial aus Archi 4/2015

«... da die städtebauliche Kritik zu einem unverzichtbaren Element der Beurteilung der modernen Architektur geworden ist, war es grundlegend, die ‹Position› des Gebäudes zu den umliegenden Räumen und Volumen zu kennen ...» (Piero Bottoni, 1954)

Data di pubblicazione
26-08-2015
Revision
08-10-2015

Die Mailänder nennen ihn den «Schweizer Wolkenkratzer», obwohl er kein echter skyscraper ist. Aber im Mailand der Nachkriegszeit waren alle hohen Gebäude «Wolkenkratzer», weil sie nach den weitreichenden Kriegszerstörungen die kollektive Erwartung des Wirtschaftsaufschwungs und der Moderne widerspiegelten. Mit seinen 21 Geschossen war der Torre von Armin Meili einige Zeit lang das höchste Gebäude der Stadt, bis es 1954 von den 30 Stockwerken des Breda-Turms von Luigi Mattioni auf der Piazza Repubblica übertroffen wurde. Dieser trug den Spitznamen «Amerikanischer Wolkenkratzer», weil das Konsulat der USA lange Jahre dort seinen Sitz hatte.

Der Schweizer Wolkenkratzer wurde nicht nur hochgeschätzt aufgrund der traditionellen Weltoffenheit der Mailänder Kultur - die heute gelegentlich von Anfällen fremdenfeindlicher Intoleranz befleckt wird -, und der Achtung, die der ansässigen Schweizer Community entgegengebracht wurde, sondern auch, weil er sofort als ein «mailändisches Bauwerk» angesehen wurde. Die Doppelform des niedrigen Gebäudes, dessen Aussengrenze an der Strasse entlang verläuft und sich an die dominante Siedlungsform der durchgehenden Fassade an der Strasse anpasst, und das hohe Gebäude, das von oben eine Verbindung zu den anderen hohen Gebäuden sucht, sind sicherlich Elemente, die seinen mailändischen Charakter ausmachen. In diesem Sinn kann das Werk von Meili in die Liste von Bauwerken ausländischer Architekten aufgenommen werden, denen es gelungen ist, die Geschichte und die Geografie eines Orts zu interpretieren, der ihnen nicht durch ihre Ausbildung vertraut ist.

Fast alle hohen Gebäude aus der Mailänder Nachkriegszeit wurden mit dem Doppelvolumenkonzept gebaut: der Turm von Piero Bottoni im Corso Buenos Aires aus dem Jahr 1947, der hinter dem niedrigeren Bauwerk steht, das in einer Reihe mit der Bebauung des Corso liegt, genauso wie der «Amerikanische Wolkenkratzer» von Mattioni, der das hohe, mit hellem Granit verkleidete Gebäude geschickt in den achtstöckigen Quader einbettet, der mit seiner dunklen Marmorverkleidung die Ecke des Platzes bildet. Das Gebäude von Mattioni wurde von der Mailänder Intelligenzija um die Zeitschrift Casabella von Rogers aufgrund des «internationalen Stils» lang nicht beachtet, der in den von Le Corbusier inspirierten Modulen in der Fassade zum Ausdruck kam. Rogers forderte dagegen den Bezug zum Bestand, zu den «preesistenze ambientali» ein.

Die Formsprache des Torre von Meili entzieht sich jeglicher sprachlichen Klassifizierung des Genres, das die architektonische Kultur Mailands gespalten hat und eine eigenständige Position einnimmt. Die Fassaden setzen ohne jede Rhetorik auf die klassische Trennung zwischen dem Sockel aus schwarzem Granit, dem Schaft mit modernistischer Verteilung der horizontalen Fenster und dem Kapitell mit grossen vertikalen Öffnungen zum Himmel hin. Es handelt sich um eine kluge und ausgewogene Übung zur Komposition verschiedener Elemente. Auf der Ostfassade des Gebäudes werden durch die vertikale Abfolge kleiner Balkone mit geschlossener Brüstung – eher ungewöhnlich für ein so hohes Gebäude – die einzelnen Stockwerke plastisch hervorgehoben. So schliesst Meili die Formsprache der Vorhangfassaden der amerikanischen Vorbilder, von denen er sich inspirieren liess, explizit aus. Das niedrige Gebäude wird von dem kleinen Vorsprung gekrönt, den Meili für seine schweizerischen Bauwerke, von der Luzerner Kaserne (1935) bis zum Gemeinschaftshaus BBC in Baden (1951-1954), verwendete. Er verzichtet jedoch auf die Bekrönung des Turms, vielleicht als Hommage an seine Vorbilder aus Übersee.

Die Moderne von Armin Meili repräsentiert seine deutschschweizerischen Wurzeln, es ist eine langsam in der Demokratie ohne die Belastung durch Diktatur und Kriegstrauma, ohne Konflikte und starke Polemik beim Wiederaufbau gereifte Moderne. Eine solide und inklusive Moderne, die sich wie ein wahrer kultureller Überbau parallel zu einer Zivilgesellschaft fast ohne soziale Spannungen entwickelt hat. Aber die äussere Eigenschaft des Wolkenkratzers von Meili, die seine Kultur am besten verkörpert, ist die Ausrichtung des Gebäudes. Sie entspricht der heliothermischen Achse und ist damit nonkonformistisch, da die lange Fassade nicht dem Park, sondern der Stadt zugewandt ist und im Rahmen einer «Anti-Immobilien-Logik» das Panorama der anderen Gebäude dem Blick auf die grosse Grünfläche vorzieht.

Heute wird die städtische Regel der durchgehenden Strassenfassaden, die die Stadt seit dem 19. Jahrhundert gekennzeichnet hat und auch trotz der häufigen Neubauten immer eingehalten wurde, nach und nach aufgeweicht. Seit einigen Jahren öffnen neue Baumassnahmen Lücken in der Strassenfassade. Neue Gebäude werden vertikal zur Strasse positioniert und zeigen Fassaden, die nicht für die Ansicht aus dem öffentlichen Raum konzipiert sind. Manchmal werden neue Bauwerke auch an zentralen Standorten wie in weit abgelegenen Gebieten mitten auf dem Baugrundstück ohne Bezug zur Strasse errichtet. Die Zersiedelung greift auch die gefestigte Stadt von innen an. Gebäude wie der Schweizer Wolkenkratzer oder andere Bauwerke aus der gleichen Zeit, die eine Stadt tiefgreifend erneuern und gleichzeitig ihren Charakter stärken konnten, richten unseren kritischen Blick auf die poetische Spannung zwischen Geschichtskenntnis und Erwartung des möglichen Fortschritts.