Ei­ne (schle­ch­te) Zu­kunft für die Ver­gan­gen­heit

Denkmalschutz

Der gesetzliche Schutz von Baudenkmälern im Kanton Bern gehört zu den modernsten der Schweiz. Die Fachbehörde muss nun die Zahl der Inventarobjekte reduzieren. Der ehemalige Leiter der Denkmalpflege Stadt Bern zweifelt, ob sich das vertretbar umsetzen lässt.

Data di pubblicazione
26-05-2016
Revision
02-06-2016

Wer an die Baudenkmäler des Kantons Bern denkt, sieht vielleicht das Berner Münster oder das Schloss Burgdorf vor sich. Es sind aber nicht solche ­na­tional wichtigen Einzelobjekte, durch die sich der Kanton Bern von den meisten anderen Schweizer Kantonen unterscheidet, sondern die grosse Zahl gut erhaltener und lebendig funktionierender Hofgruppen, Weiler und Dorfkerne. Sie prägen die weitgehend intakt gebliebene Berner Kulturlandschaft, die aus der von Menschen gestalteten Natur und den darin eingebetteten Bauten und Baugruppen besteht.

Vom Oberland über das Emmental, den Oberaargau und das Mittelland bis in den Jura gibt es sie. Diese stimmigen Landschaften bilden eines der wichtigsten Kapitalien des Kantons Bern für die ­Zukunft. Bauten und Baugruppen, denen denkmalpflegerische Aufmerksamkeit zu schenken ist, sind in einem kantonalen Bauinventar aufgelistet. Das Parlament hat jüngst aber beschlossen, dass die Zahl der Inventarobjekte auf rund zwei Drittel zu ­reduzieren ist. 

Basierend auf Schutzvermutung

Die Einsicht, dass die Bewahrung der Kulturlandschaften langfristig gesichert werden muss, wuchs mit dem Europäischen Jahr für Denkmalpflege und Heimatschutz 1975; sein Motto «Eine Zukunft für unsere Vergangenheit» leitete ein Umdenken ein. Im Kanton Bern war bereits gegen Ende des Zweiten Weltkriegs auf Betreiben der BGB1 die «Stelle für Bauern- und Dorfkultur»2 geschaffen worden.

Nun wurde die Fachstelle für Denkmalpflege moderat ausgebaut3 und das für die Schweiz bahnbrechende Instrument der «Bauinventare» entwickelt. Um die Jahrtausendwende trat ein neues Denkmalpflegegesetz in Kraft.4 Diese Vollzugsinstrumente bilden die bewährte Grundlage, damit die historischen Bauten erhalten und an heutige und künftige Ansprüche angepasst werden können. 

Der Grosse Rat beauftragte 1994 den Regierungsrat, kantonsweit Bauinventare zu erarbeiten.5  In den Beratungen zum Denkmalpflege­gesetz nahm das Parlament dann ausdrücklich Kenntnis vom (heute gültigen) Quorum von 9.7 % ins Inventar aufzunehmenden Bauten. Der Eintrag in das Bauinventar bedeutet jedoch lediglich eine Schutz-Vermutung: Werden an einem verzeichneten historischen Bau bedeutende Änderungen vorgenommen, ist der Schutzcharakter zu bestätigen oder zu verwerfen. Dieser offene Charakter des kantonalbernischen Inventars bedeutet, dass der Anteil der Objekte im Verhältnis zur Gesamtgebäudezahl nicht mit den Zahlen aus anderen Kantonen verglichen werden kann. 

Sicherung von Baukultur

Das Inventar unterscheidet eine höhere Kategorie «schützenswert», für die strenge Kriterien gelten, und eine tiefere Kategorie «erhaltenswert» mit niedrigeren Anforderungen. Bauten der letzteren Kategorie dürfen verändert werden; falls die Erhaltung unverhältnismässig ist, können sie sogar ersetzt werden. Für den Ersatzbau werden allerdings hohe gestalterische Qualitäten verlangt.

Letztlich geht es um die Sicherung der Baukultur, die beide, die historischen (mitsamt den daran vorgenommenen Um- und Ergänzungsbauten) wie auch die neu zu erstellenden Bauten umfasst. Bereits seit Jahren wird die Erstaufnahme des Inventars aktualisiert und gestrafft. Das erklärte Ziel ist eine ­Reduktion der darin enthaltenen Bauten auf der Grundlage wissenschaftlich abgestützter Qualitätskriterien.6

Umgang mit ­Baudenkmälern

Beim Umbau eines Denkmals ist manches, aber nicht alles möglich. Der konkrete Umgang erfordert Diskussionen, die sinnvollerweise stattfinden, bevor ein Bauprojekt ausgearbeitet wird. Das öffentlich zugängliche Bauinventar bildet Anlass und Grundlage zu diesem Dialog. Das gemeinsame Abwägen der Ansprüche der Bauherrschaft und der sich vom Baudenkmal her ergebenden Anforderungen hat neben den sachlichen stets auch menschliche Komponenten. Dabei ist die Denkmalpflege im Kanton Bern nicht, wie in anderen Kantonen, Entscheidungsinstanz, sondern Fachbehörde, die mit einem Mitbericht Antrag an die Baubewilligungsbehörde stellt. 

Die jahrzehntelangen Erfahrungen zeigen, dass sinnvolle An­liegen der Bauherrschaften in den allermeisten Fällen umgesetzt werden können. So erstaunt das Fazit einer vor wenigen Jahren durchgeführten Erhebung nicht: Bauherren, Architekten, Handwerker und institutionelle Anleger betonen die gute Zusammenarbeit mit der Berner Denkmalpflege. Aus den Diskussionen entstehen Lösungen, auf die alle Beteiligten stolz sind.7

Auch die Bevölkerung unterstützt die Bestrebungen, die qualitätsvollen, wichtigen Bauten der Vergangenheit zu erhalten. In einer im vergangenen Jahr durchgeführten repräsentativen Umfrage8 gaben 68 % der Befragten an, dass die Denk­mäler in ihrer Umgebung für sie «Heimat» bedeuten, für 86 % ist der bestehende Ortskern für das Wohlbefinden wichtig, 90 % würden sich daran stören, wenn Denkmäler in ihrer Umgebung zerstört würden.

Anteile oder Qualitäten?

Diese klaren Haltungen der direkt Beteiligten und der Bevölkerung kümmern die Mehrheit des bernischen Grossen Rats wenig. Schon 2008 hatte das Kantonsparlament in einer Planungserklärung die Reduktion der im Bauinventar enthaltenen Baugruppen gefordert;9 die Umsetzung ist seither im Gang.

Ausgehend von Einzelbeispielen, bei denen Bauberater der kantonalen Denkmalpflege ungeschickt agiert haben mögen – unter dem Druck von Exponenten der Bauwirtschaft und unterstützt von Architekten, die die geforderte Qualität im Umgang mit wertvollen historischen Bauten nicht leisten können oder wollen –, wurde nun aus den Reihen der SVP der Überraschungscoup lanciert, die Gesamtzahl der im kantonalen Bauinventar verzeichneten Bauten von 9.7 % des Gesamtbaubestands auf bloss 6.0 % zu reduzieren. Ohne weitere Abklärungen stimmte der Rat dem Vorstoss zu, legte allerdings 7 % fest.10

Der kantonalen Erziehungsdirektion, der die Denkmalpflege untersteht, bleibt es überlassen, diesen für die Zukunft der bernischen Baukultur einschneidenden Beschluss umzusetzen.11 Die Fachstelle Denkmalpflege sieht eine umfassende Überprüfung und Reduktion des Bauinventars im Zeitraum von fünf Jahren vor. Dabei soll die Kategorie der «schützenswerten» Bauten nicht oder nur marginal reduziert werden.

So muss fast die Hälfte der «erhaltenswerten» Bauten aus dem In­ventar gestrichen werden, um die geforderte numerische Reduktion zu erreichen.12 Im Rahmen von amts­internen Workshops, in denen jene Bauten diskutiert und gegeneinander abgewogen werden, die bezüglich Typus, Entstehungszeit und Region vergleichbar sind, werden die massiven Streichungen vorgenommen.13

«Enormer Schaden»

Weiterführende, alternative Ansätze sind laut der Medienmitteilung nicht erkennbar. Möglich wäre, unbestrittene, bereits rechtlich geschützte Objekte aus dem Inventar zu streichen oder Streichungen vor allem in Gebieten ohne nennenswerten Baudruck vorzunehmen. Zudem könnten die Gemeinden vermehrt in die Erhaltung ihres eigenen Baukulturerbes einbezogen werden.

Die Denkmalpflege selbst scheint über eine gewisse Reduktion der Objekte nicht unglücklich zu sein, da sie die Arbeitslast verringert und mehr Zeit lässt für die Betreuung der verbleibenden Inventarobjekte. Sie stellt aber fest, dass der in Auftrag gegebene Kahlschlag ganz besonders die Kulturlandschaften des Kantons enorm schädigen wird.

Leidtragend ist nicht die heutige Generation. Sie wird zwar jährlich Verluste an Denkmälern feststellen und zutiefst bedauern. Die Abbrüche und Verschandlungen werden indessen noch nicht so zahlreich sein, um in ihrer Summe bereits aufzufallen. Vielmehr werden es die Enkel und Enkelinnen der heute gewählten Grossräte und Grossrätinnen sein, die sich fragen werden, wie ihre Vorfahren dazu kamen, ihnen aufgrund vermeintlicher Erleichterungen und ökonomischer Gewinne einen wichtigen Teil ihres baulichen Erbes geraubt zu haben und eine schlechte Zukunft für ihre Vergangenheit zu hinterlassen.

 

Anmerkungen

1 Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei, heute Schweizerische Volkspartei.

2 Die Stelle war in der Landwirtschaftsdirektion angesiedelt. 1993 wurde sie in die kantonale Denkmalpflege integriert.

3 Zuvor waren in der Denkmalpflege für den ganzen Kanton lediglich zwei Fachleute tätig.

4 Gesetz über die Denkmalpflege (Denkmalpflegegesetz DPG) vom 8. September 1999 (BSG 426.41). Sämtliche zielverwandten Stellen wurden in die Fachstelle Denkmalpflege integriert.

5 Die Denkmalpflege der Stadt Bern führt ein eigenes Bauinventar, das der Methodik des kantonalen Inventars entspricht. Es wird gegenwärtig überarbeitet. Eines der Ziele besteht darin, gestützt auf qualitative Kriterien die Zahl der aufgenommenen Objekte zu reduzieren.

6 Das Gesetz verlangte periodische Überarbeitungen.

7 André Riner, Andrea Letsch: Denkmalpflege Stadt und Kanton Bern: Kundenbefragung. Bern/Zürich Oktober 2012.

8 Link Institut: Umfrage zu Heimat – Identität – Denkmal, durchgeführt im Auftrag des Bundesamts für Kultur, Luzern Juli 2015.

9 Motion 104-2007 von Grossrat Fritz Freiburghaus (SVP, Rosshäusern).

10 Es steht noch aus, ob in der kommenden Session anlässlich der zweiten Lesung die Prozentzahl gesenkt wird.

11 Medienkonferenz vom 25. Februar 2016.

12 Die Reduktion beträgt 45%. Eine Senkung der Inventarbauten auf 6% des Gesamtgebäudebestands würde gar eine Streichung von 60% der „erhaltenswerten“ Bauten bedingen.

13 An jedem der wöchentlich stattfindenden Workshops werden im ersten Jahr rund 40 Baugruppen, in den darauf folgenden vier Jahren 150 Einzelobjekte begutachtet. Wie fundiert eine solche Schnellüberprüfung anhand von Fotos sein kann, bleibt offen. Klar ist indessen, dass bei allen Betroffenen grosse Unsicherheiten entstanden sind.

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