Der Mythos liegt im Dunkeln
Premierenfahrt durch den Gotthard-Basistunnel
Bringt die Gotthard-Alpentransversale die Eisenbahn zum Fliegen? Wird man bei der Unterquerung die Aussicht auf das zentrale Gebirgsmassiv vermissen? Oder ist die 200-km/h-Tunneldurchfahrt einfach ein beklemmendes Erlebnis? Über erlebte Eindrücke, sich annähernde Landschaften und vielfältige Fantasien von der ersten Bahnfahrt durch den 57 km langen Basistunnel zwischen Uri und Tessin.
Der Flug von Mailand-Malpensa nach Zürich-Kloten dauert weniger als eine Stunde und verkürzt sich bei wolkenlosem Himmel gefühlt um weitere Minuten. Neugierig sucht man die Landschaften weiter unten nach bekannten Dörfern, Tälern oder Berggipfeln ab. Der Überflug wird zum persönlichen Geografietest, der vereinzelte Erfolgserlebnisse bringt, aber auch zur enttäuschenden Haupterkenntnis führt: Die direkte Reise über die Alpen führt am tektonischen Dach Europas deutlich vorbei. Der Sankt Gotthard liegt, gemessen an der modernen Süd-Nord-Passage, im Off.
Dieselbe Traverse, in entgegengesetzter Richtung und nicht darüber hinweg sondern erstmals ganz, ganz weit unten hindurch, steht nun auf dem Programm. Am Sonntag, 11. Dezember 2016, frühmorgens nimmt die SBB den Fahrplanbetrieb durch den 57 km langen Gotthard-Basistunnel auf. Und wir sind bei dieser Eisenbahnpremiere mit von der Partie.
Abermals erwartet uns eine geografische Überraschung, die der aviatischen Logik entspricht: Die schnurgerade Passage gilt neu auch im Untergrund und ist sogar derart trügerisch, dass sich der Basistunnel nun mit falschem Namen schmückt. Beide Röhren unterqueren nicht den heiligen Gotthard-, sondern nur den Oberalppass zwischen Andermatt und Sedrun. Und die höchste Erhebung darüber ist ein 3000 m hoher Glarner Berggipfel namens Piz Giuv, rund 30 km vom Gotthardhospiz entfernt. Die modernen Transitkorridore hoch in der Luft und tief im Berg meiden beide den historisch, staatspolitisch und medial gern und oft mystifizierten Scheitelpunkt Westeuropas.
Eine verschlafene bis muntere Schulreise
Am Zürcher Hauptbahnhof, Sonntagmorgen kurz vor 6 Uhr auf Gleis 7, bestätigt sich zumindest, wie nah sich Eisenbahn und Linienflug inzwischen gekommen sind: Die Passagiere werden vor dem Einsteig persönlich begrüsst. Und nach der Abfahrt spricht SBB-Kapitän Andreas Meyer über Lautsprecher zu ihnen. Allerdings nur auf Schweizerdeutsch. Der SBB-CEO Meyer will jedoch niemanden beruhigen, sondern spricht selbst leicht aufgeregt über die bevorstehende Premierenfahrt. Mit dem Fahrplanwechsel kommen sich Zürich und Bellinzona eine halbe Stunde näher. Die Fahrt dauert – dank Basistunnel und ohne Umweg über die Bergstrecke zwischen Erstfeld und Biasca – weniger als 100 Minuten; das Auto kriecht nun selbst bei staufreier Autobahn eine Dreiviertelstunde hinterher.
9 Minuten nach 6 Uhr fährt der EC 11 Zürich–Monza ab und macht sich an den Beweis, dass man sich auch bei solchen ambitionierten Vorhaben auf die Schweizerischen Bundesbahnen verlassen kann. Während werktags stumme Pendler mit starrem Blick auf iPhone oder iPad dominieren oder am WochenendeFussballfans und Partygänger eine hitzige, aufgedrehte Stimmung verbreiten, macht sich an diesem frühen Sonntagmorgen eine verschlafene bis aufgeweckt muntere Schulreise auf den Weg. Die Schweiz ist ein Volk von Bähnlern: Jüngere und ältere Männer fachsimpeln bereits auf den ersten Kilometern, wie das Jahrhundertbauwerk entstanden ist und was die baldige Durchfahrt persönlich zu bedeuten hat. Und weil so viele Reporter mit Mikrofon und Kamera, selbst aus Deutschland und Japan, auf Stimmenfang gingen, haben auch Unwissende bald begriffen, was das Besondere an dieser Bahnfahrt ist.
Das Zugpersonal dagegen kontrolliert wie gewohnt die Billette und rapportiert auf Nachfrage, ob bereits Höchstgeschwindigkeit erreicht worden sei. Für diese lockere Premiere wurde jedoch tagelang trainiert. In einem Bahnsimulator1 wurden denkbare Notfälle und Evakuationen geübt. Herumstehendes Gepäck oder sich stapelnde Velos werden nicht mehr toleriert. Und auf Plakaten sind die neuen Sicherheitsanforderungen für die Tunnelpassage angebracht. Bereits 5000 Mal hat die SBB die beiden 57 km langen Röhren in den letzten Monaten durchfahren; seit dem Sommer ist die Alpentransversale für Güterzüge offiziell eröffnet.
Nach knapp 20 Minuten taucht das Tessin auf
7:07 Uhr, 58 Minuten ab Zürich, nimmt der EC die letzten Ehrengäste aus Uri auf. Gemeinsam wird die nationale Polit- und Bahnprominenz an diesem Sonntag Vormittag nicht den Basistunnel, sondern die Wiedereröffnung des Bahnhofs in Lugano zelebrieren. Gemeinsam mit der «Funicolare» hinunter zur Piazza Cioccaro ist der Bahnanschluss erneuert worden. Dasselbe Facelifting hat der Bahnhof Bellinzona erfahren. Letzterer darf sich nun «Porta del Ticino» nennen; aber wie in Lugano präsentiert sich das fast 150-jährige Empfangsgebäude in aufgefrischtem Rot. Darin und darum herum wurde jedoch vieles aus funktionalen Gründen leergeräumt. Beide Haltestellen sind zwar umsteigefreundlich erweitert und im Untergrund mit dem inzwischen üblichen Fast-Food- und Shoppingprogramm ausgestattet worden.
Dieser neue Einheitslook erinnert – mit Ausnahme der historischen Gebäude – an viele weitere, seelenlos modernisierte Bahnstationen. Noch befinden wir uns auf der Anfahrt. Um 7:16 Uhr taucht der Neigezug bei Rynächt in die linke Tunnelröhre ein. Ausser einem leichtem Brummen der Lüftung und vorbeiflitzenden Lichtern ist nichts Besonderes wahrzunehmen. Einzig die Bordscreens zeigen an, dass der Zug nun mit Tempo 199 km/h unter dem massiven Gebirgsmassiv hindurch rast. Ansonsten verschwindet wie erwartet – und dennoch irgendwie enttäuschend – der Mythos Gotthard im Dunkeln.
Zum Trost richtet man den Blick auf das bewegte Bild, das seit Reisebeginn wiederholt, wie schön eine Bahnfahrt durch eine tunnellose Schweizer Landschaft effektiv ist. Nach genau 18:20.48 Minuten ist die 56.9 km lange Premiere jedoch vorbei. Am Tessiner Morgenhimmel dämmert es. Und ein wenig später, aber keine 120 Minuten vom Zürcher Limmatquai entfernt, wird der «Macchiato» in der Birreria Bavarese in Bellinzona mit einem freundlichen «prego» und für weniger als drei Franken serviert.
Die kurze Distanz und das mediterrane Ambiente dürften bald weitere Bahnpassagiere aus der Deutschschweiz ins Tessin locken. Oder werden auch Geschäftsreisende diese Chance nutzen wollen, um engere Bande zwischen Nord und Süd zu knüpfen? In diesem Moment rattert ein Güterzug durch Bellinzona und erinnert daran, dass der 12 Milliarden Franken teure Gotthard-Basistunnel vor allem dafür gebaut worden ist: für den Warentransport quer durch Europa. Zwischen 7 Uhr morgens und 11 Uhr abends rasen 48 EC und IC hindurch. Davor, dazwischen und danach sind vier- bis fünfmal so viele Fahrten mit den Güterzügen vorgesehen.
Beginnt die ferngesteuerte Verkehrszukunft?
Die erste Tunneldurchfahrt bleibt als reibungslose, aber ereignisarme und flüchtige Angelegenheit in Erinnerung, wobei Letzteres eigentlich Sinn der Sache ist. Aber warum das Bauwerk mit derart viel Stolz und Symbolik zum Jahrhundertereignis hochstilisiert wird, lässt sich an diesem Morgen kaum erahnen. Ein ingenieurtechnisches Bravourstück ist es für die meisten Passagiere sowieso. Denn wie genau das funktioniert und welche technischen Leistungen dahinterstecken, bleibt rätselhaft. Bereits bei der Lautsprecherdurchsage des Unternehmenschefs frühmorgens wurde gemunkelt, dass sie nur ab Band abgespielt worden ist. Und sachkundige Passagiere klärten sich gegenseitig auf, wie eifrig und lang für den Tunnel gepickelt worden ist respektive wie ferngesteuert und unpersönlich die Bahn nun auf der gesamten Nord-Süd-Achse verkehrt.
Beginnt so die Zukunft des Verkehrs, dass Menschen und Waren bald ohne Piloten aus Fleisch und Blut durch die Gegenden befördert werden? Und wenn schon auf Human Power verzichtet werden kann, kann die neue Bahninfrastruktur nicht auch Räume langfristig zum Verschwinden bringen? Tatsächlich wird über solche Hypothesen nicht nur in Fachkreisen angeregt diskutiert. Auch die ansässige Bevölkerung dürfte interessieren, was die Zukunft für die Gotthardlandschaft bringt, wenn plötzlich ein kollektives Reiseerlebnis verloren geht.
Abgeflachtes Dach Europas
Vor knapp 800 Jahren hat der Pakt mit dem Teufel den St. Gotthard-Pass überwindbar gemacht. Seit über einem Jahrhundert ist der Aufstieg durch die Schöllenen wieder obsolet; am 22. Mai 1882 ist der erste Gotthardbahntunnel eröffnet und der Transit wesentlich leichter geworden. Und ab jetzt erfolgt die Verbindung bereits auf der untersten Talstufe. Das ehemals waghalsige Steildach Europas ist flach, leistungsfähig und schnörkellos geworden. Weite Teile des Urnerlands und der Leventina drohen daher zu blinden Flecken zu werden.
Der Gotthard ist gebändigt und beseitigt, beklagt sich auch der Tessiner Alpen- und Architekturforscher Luigi Lorenzetti. Und der Luzerner Geschichtsprofessor Daniel Speich Chassé befürchtet, dass die Barockkirche von Wassen das Opfer für diesen Fortschritt ist. Gemeinsam mit anderen Autoren haben sie «Gotthardfantasien2» verfasst, als Sammlung literarischer, historischer und ethnologischer Essays, in denen die mystifizierte Schweizer Ur-Landschaft profund und unterhaltsam durchleuchtet wird.
«Gotthard, Gottardo3» untersucht ähnlich spannende raumwirksame Aspekte anhand von Studien, die an der Accademia di Architettura und der ETH Zürich durchgeführt worden sind. Auf fast 1000 illustrierten Seiten wird die vielschichtige Zukunft des Gotthard-Phänomens angesichts der fortgesetzten Transformation ebenso anregend zur Debatte gestellt. Passend dazu macht ein Plakat auf dem Bellenzer Bahnhofplatz, am Tag der Gotthard-Neueröffnung, auf die Ausstellung «Dreamland Alps» aufmerksam, die sich mit Utopien und Projektionen auf alpiner Kulisse befasst.
Und als hätte selbst die SBB ein schlechtes Gewissen, mit dem Basistunnel den Wurzelraum des viel beschworenen Mythos durchschnitten zu haben, bewerben sie kombiniert zur NEAT-Eröffnung die vielfältigen Freizeit- und Ausflugsangebote im Gotthardraum. Braucht es nun einen Kreativitätsschub, damit die Täler abseits der Alpentransversale nicht abgehängt werden? Oder was passiert mit dem Lebensraum, wenn eine Landschaft nicht mehr ist, als was sie bislang erschienen ist? Nach dem Sondereffort der Tunnelbauingenieure ist nun ein ebensolcher von Raumplanern, Architekten und Tourismusfachleuten gefragt.
Dass man sich vor Ort durchaus pragmatisch zu arrangieren weiss, bestätigte der kurze Augenschein am Fahrplansonntag, 11. Dezember 2016. An der Viale Stazione in Bellinzona ebenso wie im Zentrum von Lugano war «grande mercato». Die Marktstände boten eine grosse Vielfalt an Produkten aus der Gotthardregion feil. Dank dem neu eröffneten Basistunnel dürfte einiges davon in die Deutschschweiz mitgenommen worden sein.
Für die Rückfahrt nach Zürich wurde ein Regionalzug bestiegen, der über die Bergstrecke und dreimal an der Kirche von Wassen vorbeifuhr und an diesem Sonntag dazu diente, den Mythos Gotthard erschöpfend abzuschliessen. Das gleichnamige Epos am Schweizer Farbfernsehen blieb daher unbeachtet. Stattdessen wählte ich eine Abendlektüre, die mit dem Bau einer unterirdischen Verbindung zwischen Amerika und Europa zu fesseln vermag: «Der Tunnel4» von Bernhard Kellermann erschien 1923, erzählt die persönlichen Dramen und Abenteuer, die sich im Umfeld eines Pionierwerks abspielen, und war zu seiner Zeit berechtigterweise ein literarischer Grosserfolg.
Quellenhinweise:
- SBB-Simulationsvideo Gotthard-Basistunnel.
- Gotthardfantasien, eine Blütenlese aus Wissenschaft und Literatur; Boris Previsic (Hrsg.) Hier und Jetzt 2016.
- Gotthard Gottardo, landscape myths technology; M. Burkhalter, Ch. Sumi (Hrsg.) Scheidegger & Spiess 2016.
- Bernhard Kellermann, Der Tunnel, 1923.