Dur­chläs­si­ge Kam­mern

Die zwei Wohnbauten in Bern von Atelier Scheidegger Keller, Zürich, haben es in sich: Volumetrisch nahtlos in das beschauliche Wohnquartier eingefügt, überrascht das Innere mit räumlichem Reichtum. Der raffiniert geschnittene Kammergrundriss ist dreidimensional gedacht, öffnet unerwartete Wege und Blickbeziehungen.

Data di pubblicazione
11-09-2019

Vom Loryplatz im Westen der Stadt Bern führt die Zwyssigstrasse in einem sanften Bogen zum «Vejelihubel» (Veilchenhügel) hinauf, den die Friedenskirche bekrönt. Das idyllische Wohnquartier mit Gartenstadtatmosphäre entstand in der Zwischenkriegszeit. Ausgangspunkt für die Planung war die Kirche samt Pfarrhaus von Karl Indermühle. Villenartige, neobarocke oder im Heimatstil gehaltene Punktbauten folgten. Im Jahr 1917 wurde das stattliche Schulhaus Munzinger mit grosszügiger Aussenanlage in Betrieb genommen.

Schräg gegenüber, wo die Friedensstrasse zur Kirche weiterführt, bauten Christian Scheidegger und Jürg Keller jüngst zwei kleine Mehrfamilienhäuser mit je drei Wohnungen. Sie gewannen 2012 den vom Fonds für Boden- und Wohnbaupolitik der Stadt Bern ausge­lobten Studienauftrag. Mit ihren quadratischen Grundflächen, den erkerartig ausgebildeten Balkonen, den Lukarnen und den charakteristischen Walmdächern fügen sich die Kuben nahtlos in das städtebauliche Muster ein.

Vertraute Volumetrie, ungewöhnliches Material

Atypisch jedoch ist die Materialisierung. Zunächst verwenden die Ar­chitekten anstelle eines grob strukturierten Zementputzes, der die benachbarten Häuser auszeichnet, einen einfachen italienischen Zementstein. Während im Sockelbereich dessen glatte Seite sichtbar ist, weisen die aufgehenden Fassaden eine tiefe Rillenstruktur auf. Deren raue Anmutung entsteht durch das Auseinanderbrechen der als Doppelsteine produzierten Elemente. Dabei verlaufen die Bruchstellen etwas unregelmässig, und das Korn wird sichtbar. Wie beim Kratzputz bestimmt nun die Korn­grösse den Ausdruck, und die Oberfläche gewinnt an Tiefe.

Irritierend anders sind auch die Dachrinnen und die Ziegeleindeckung gewählt: Die Rinne ist als massiver Kranz in Ortbeton gegossen; die Ziegel bestehen aus unbeschichtetem, rohem Zement, sodass sie ebenfalls grau erscheinen. Dank der direkten, teilweise beinahe ruppigen Materialverwendung wirken die Bauten aber trotz morphologischer Nähe zum historischen Bestand keineswegs an­biedernd. Damit stellen Scheidegger Keller dem heutigen Trend zu einer mit historisierenden Elementen versetzten Formensprache eine andere, selbstbewusste Architektur gegenüber. Diese ist von radikaler Neugier und Experimentierfreude ebenso geprägt wie vom Willen, mit klar definierten Mitteln starke Räume und Raumfolgen zu schaffen.

Diese Haltung zeigt sich bereits beim kleinen Haus am Sarnersee (2014), dessen Zeltdach nur auf zwei Y-förmigen Stahlbetonstützen ruht, und beim Neubau von Studentenwohnungen an der Rosengartenstrasse in Zürich (im Bau), wo den doppelgeschossigen Wohnräumen über die Diagonale ebenfalls überhohe Log­gias zugeordnet sind, die den kleinteiligen Zimmerraster mit unverhoffter Grosszügigkeit durchbrechen.

Innovative Raumaufteilung

An der Zwyssigstrasse erfolgt die Überraschung beim Betreten der Wohnung: Von aussen deutet nichts darauf hin, welch räumlicher Reichtum sich im Innern entfaltet. Basis dafür sind ein paar wenige, kluge Setzungen. Dazu gehört erstens der städtebaulich motivierte Entscheid, zwei Punktbauten mit Walmdach zu errichten. Weil es pro Geschoss nur eine Wohnung gibt, profitiert jede von einer allseitigen Ausrichtung, was die Dachfläche als fünfte Fassade mit einschliesst: In jeder Wohnung gibt es mindestens einen Raum, der bis unters Dach reicht. Im Erdgeschoss entsteht dadurch ein gegen zehn Meter hohes Zimmer, das mittels Lichtreflexionen bis zur Decke hinauf erstaunlich hell ist.

Eine räumliche Grosszügigkeit wird nicht über wenige grosse, sondern eine Vielzahl kleiner Räume angestrebt, wodurch innerhalb der Wohnung viele Verbindungen und unterschiedliche Wege entstehen. Als weitere Steigerung wurden zwischen die in neun Quadrate unterteilte Grundfläche vier zusätzliche Kammern für die Nebenräume (Küche, Bad, Dusche und Garderobe) eingefügt. Das Bad funktioniert nur deshalb auch als vollwertiger Durchgangsraum, weil Scheidegger Keller das von Lux Guyer erfundene und von Jens Studer weiterentwickelte «Klappbad» übernommen ­haben. Der Clou daran ist, dass die Türen den Raum entweder schliessen oder die Installationen gänzlich dahinter verschwinden.

Alle Wände, die an eine Fassade stossen, verlaufen senkrecht zu dieser. Weil jedoch die knapp bemessenen, rechteckigen Nebenräume verdreht dazu angeordnet sind, weisen alle Zimmer – wozu konsequenterweise auch das halböffentliche Treppenhaus zählt – polygonale Flächen auf. Die innere Halle dient als ­zentraler Verteilerraum, dessen Durchgänge in die Zimmer zur ­Beruhigung der Wandabwicklung alle die gleiche Breite aufweisen. Dies ermöglichte zudem die mathematisch präzise Definition der Grundrissmatrix: Die Halle ist ein unregelmässiges Viereck mit abgeschrägten Ecken. Verändert man einen Winkel und dessen Lage im Grundriss, ver­ändern sich die gesamte Raumfigur und damit die Raumproportionen. Zur Evaluation der besten Lösung programmierten die Architekten die Grundkonstellation und drehten daran, bis sie das Optimum gefunden hatten. Dabei legten sie be­sonderes Augenmerk auf die Möb­lierbarkeit der unkonventionellen Wohnungen.

Die Einteilung mag als formalistische Spielerei erscheinen, ist aber räumlich motiviert, wie aus zahlreichen Modellstudien hervorgeht. Zudem spricht das Ergebnis für sich: Das geometrisch einprägsame Muster des Grundrisses entpuppt sich beim Begehen als durchaus entspannter als gedacht. Die vielfältigen Raum- und Blickbeziehungen sind ein Gewinn, sodass die Wohnungen auf unterschiedliche Weise genutzt werden können.

Gleichwohl bleibt die Aneignung eine gewisse Herausforderung. Die Architekten betonen denn auch, dass dieses Experiment nur deshalb möglich war, weil es sich insgesamt um wenige Einheiten handelte. Der Mut der Bauherrschaft hat sich gelohnt. Die zwei Häuser sind ein Beispiel dafür, wie stark ein klassischer Kammergrundriss manipuliert werden kann, sodass maximal durchlässige und dennoch angenehm gefasste Räume zum Wohnen entstehen.

Architektur
Atelier Scheidegger Keller, Zürich


Baumanagement
SAJ Architekten, Bern


Tragwerksplanung
Monotti Ingegneri Consulenti, Locarno


HL-Planung und Bauphysik
Raumanzug, Zürich


Sanitärplanung
HJ. Aeschbacher, Mühleberg BE


Elektroplanung
BKW ISP, Ostermundigen


Landschaftsarchitektur
Maurus Schifferli Landschaftsarchitekten, Bern


Bauherrschaft
Fonds für Boden- und Wohnbaupolitik der Stadt Bern, p.A. Immobilien Stadt Bern


Baukosten
4.9 Mio. Fr. inkl. Wettbewerb


Bauzeit
2016–2018

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