Re­geln der Bau­kun­de oder Bau-Un-Kul­tur?

Data di pubblicazione
14-07-2018

Der Artikel «Die Anti-Scherben-Richtlinie» in TEC21 12–13/2018 hat eine Debatte über das Sicherheitsrisiko von Gebäuden ausgelöst. Im Nachgang haben uns Rückmeldungen erreicht, die bemängeln, wie missverständlich solche Richtlinien sind. Wir veröffentlichen eine Klarstellung und einen Leserbrief:

Sicherheit von Bauwerken

Gehört die neue Sigab-Richtlinie 002 zu den anerkannten Regeln der Baukunst? Wie geht man beim Bau oder Umbau von Projekten damit um? Und welche Rolle spielt die Richt­linie bei einem Schadensfall für die Gerichte? Nachfolgend wird versucht, diese Fragen zur Sicherheit von Bauwerken zu beantworten:

Zuerst gilt es zwischen «anerkannten Regeln der Baukunde» und dem «Stand der Technik» zu un­terscheiden. Letzterer umschreibt ­neueste oder aktuellste Erkenntnisse in der Bautechnik, die in der Praxis nicht zwingend anerkannt und juristisch weniger bedeutend sind. Dagegen beziehen sich einschlägige technische Normen und baurecht­liche Vorschriften, vor allem die kantonalen Baugesetze, auf die «anerkannten Regeln der Baukunde». Anerkannt sind technische Regeln des Baufachs, die von der Wissenschaft als richtig erkannt werden und die sich nach Ansicht einer klaren Mehrheit der betroffenen Baufachleute in der Praxis bewährt haben. Für die Sicherheit von Bauprodukten, die noch nicht im Bauwerk verwendet werden, ist zusätzlich die Bauproduktegesetzgebung in Betracht zu ziehen. Dabei gilt: Ein Produkt darf kein Sicherheits­risiko darstellen. Zu unterscheiden ist ferner zwischen der Richtlinie einer Stiftung, die von der Glasindustrie finanziert wird, und einer SIA-Norm. Zwar lässt die Norm SIA 331/2012 Fenster und Fenstertüren Interpretationsraum offen: Die Norm SIA 331 Fenster und Fenstertüren regelt die Glasbruchthematik nicht konkret, sondern geht vom Konzept einer Risikobeurteilung aus. Nach Norm SIA 331, Ziffer 2.7.4.2 muss, wo eine Verletzungsgefahr besteht, das Risiko, (durch Hineinlaufen,
Hineinfallen, Hineinfahren) Verletzungen zu erleiden, durch die Wahl einer geeigneten Verglasung oder durch andere Massnahmen vermieden werden. Die Sigab-Richtlinie kann bei einem Unfall allenfalls als Auslegungshilfe beigezogen werden, da sie relativ konkrete Sicherheitsempfehlungen formuliert. Ob diese auch die anerkannten Regeln der Baukunde wiedergeben, ist jedoch gerichtlich zu entscheiden.

Kann sich eine neue Richt­linie auch auf die Sicherheitsbeurteilung bestehender Bauten beziehen? Eigentlich nicht: Bauten müssen die Regeln der Baukunde zum Zeitpunkt der Baubewilligung einhalten.

Beat Flach, MLaw/SIA, SIA-Recht, Schweizerischer Ingenieur- und Architektenverein

Eine Richtlinie unter vielen

Es ist problematisch, wenn ein Fachverband aus Interessenvertretern der Glasindustrie die Richtlinie «Sicherheit mit Glas – Anforderungen an Glasbauteile» entwirft. Das Vorgehen zeigt ein Grundproblem der Schweizer Bau-Un-Kultur auf: Die Sigab-Richtlinie ist trotz Mitarbeit der Beratungsstelle für Unfall­verhütung bfu und dem Hinweis auf «Inkrafttretung» am 1. Januar 2018 nicht verbindlich. Dies findet aber nur heraus, wer sich die Mühe macht, die FAQ zur neuen Richtlinie zu lesen. Sie ist keine «Norm», sondern nur eine Richtlinie unter vielen.
Solche Dokumente können unter Bauherrschaften und Planenden grosse Verwirrung stiften. Uns erschliesst sich der Sinn der Richtlinie nicht: Ist nun die innerste Isolierglasschicht bei praktisch jedem öffenbaren Fensterelement durch eine Glasschicht VSG oder ESG zu ersetzen? Diese Fälle wurden bis anhin ganz einfach durch die – auch zukünftig notwendige – aussenseitig vorgesetzte Absturzsicherung gemäss SIA-Norm 358 gesichert. Ob aber eine Verschärfung der «Glasnorm» die gewünschten Resultate erzielt, bleibt fraglich. Gibt es zum Beispiel in Portugal trotz lascher Geländervorschriften mehr Todesstürze über Geländer als in der Schweiz? Weil sich am Bau Beteiligte gegen jegliche Unsicherheit und Gefahr absichern wollen oder müssen, ist eine Verteuerung der betroffenen Bauteile zu befürchten. Neben dem ökonomischen Mehraufwand resultiert leider auch ein Plus an grauer Energie – beide Faktoren sind eigentlich heute unerwünscht.

Unserer Meinung nach wäre die Publikation der Richtlinie ein Thema, das der SIA als Verband aktiv bewirtschaften sollte, damit solche Gepflogenheiten nicht um sich greifen. Ebenso sollte der rechtliche Aspekt dahinter geklärt sein, damit Planende wissen, wie sie sich gegenüber Bauherren verhalten sollen. Dies würde nicht zuletzt auch den bewilligenden Behörden dienen.

Andreas Zimmermann, Zimmermann Sutter Architekten, Zürich

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