In­ter­ven­tio­nen in Lis­sa­bon

Terra – Trienal de Arquitectura de Lisboa

Vom 29. September bis 5. Dezember findet in Lissabon die Architekturtriennale 2022 statt. Das Programm besteht aus vier Ausstellungen, vier Büchern, drei Preisen, drei Konferenztagen und einer Auswahl unabhängiger Projekte. Wir haben einen Blick darauf geworfen.

Data di pubblicazione
04-11-2022

«Terra beschreibt einen universalen Ort, der etwas Visionäres in sich trägt, eine Idee von Heimat, die sich in eine Gemeinschaft einbettet, als auch das reine Material Erde». Die Kuratorin Cristina Verissimo und der Kurator Diogo Burnay eröffnen unter diesem Titel die sechste Architekturtriennale in Lissabon. Wie schon der portugiesische Titel «Terra» viele Möglichkeiten zur Interpretation zulässt, bewegen sich auch die zugrundeliegenden Fragestellungen und Themen in einem breiten Spektrum der aktuellen globalen Herausforderungen.

Die Triennale schlägt vor, «die Zukunft nach den durch die Pandemie bedingten Schliessungen neu zu bewerten, indem Wissen und Praktiken miteinander verknüpft und ausgetauscht werden». Es wird eine Handlungsaufforderung formuliert, die sich weltweiten Zusammenhängen und den klimatischen Krisen stellt. Diesem Anspruch können die Ausstellungen nur teilweise standhalten, da die Masse der Beiträge ein oft vages Bild zeichnen. Einige spezifische Projekte jedoch bieten präzise Perspektiven und enthalten mögliche Antworten in ihrem Kontext. Indem das Verhältnis von Theorie und Praxis reflektiert wird, stellt sich die Frage nach der Rolle der Architekturschaffenden und dem Medium der Architektur, deren Grenzen sich stetig neu definieren.

Die vier Hauptausstellungen, jede entwickelt von unterschiedlichen Kuratorinnen und Kuratoren, stehen im Zentrum. Sie werden begleitet von vier Publikationen, drei Awards, einer Vortragsreihe und diversen unabhängigen Projekten. Verteilt in Lissabon, können die Besuchenden diese an verschiedenen Standorten entdecken.

Anregung zur Veränderung

Im nationalen Museum für zeitgenössische Kunst wurde die Ausstellung «Multiplicity» von Tau Tavengwa und Vyjayanthi Raokuratiert. «Die meiste Welt baut sich eigenständig – ohne ArchitektInnen». Unter diesem Motto repräsentiert das in der Soziologie und Philosophie tätige Team eine alternative Produktion von Architektur neben dem nur gebauten Objekt. Im globalen Süden lokalisiert, wollen die Projekte unter dem Ansatz «do no harm» Anregungen zur Veränderung setzen.

Kleine Interventionen können im alltäglichen Leben einer Gemeinschaft neue Impulse auslösen. So wird eine Bank im öffentlichen Raum zum Ort des Austauschs und Materialforschung im Lehmbau und könnte prototypisch im weltweiten Kontext wirken. Das Team will «hinterfragen, was wir als Architektur wahrnehmen». Gerade in einer Umgebung, in der es nicht die Möglichkeit gibt zu bauen, stellt sich die Frage «how can we be an architect?»

Druck der Urbanisierung

Einen weiteren Ansatz zu dieser Frage bietet die Ausstellung «Retroactive Infrastructures». Die Kuratorin Loreta Castro Reguera und der Kurator Jose Pablo Ambrosi definieren den Titel als eine architektonische Typologie. In sogenannten «Broken Citys» entstehen Projekte, die öffentliche Orte mit infrastrukturellen Gegebenheiten verknüpfen.

Von den hohen Decken des ersten Raums der Ausstellung hängen lange, weisse Tücher. Auf ihnen flackern Nachrichten der Welt, begleitet durch ein Stimmengewirr. Es wird ein desolater Zustand der heutigen Städte an diversen Orten gezeichnet. Diese leiden unter dem enormen Druck der rasanten Urbanisierung – sowohl der öffentliche Nahverkehr als auch die technischen und sanitären Infrastrukturen können den BewohnerInnen nicht mehr ausreichend dienen.

Demnach muss Architektur als «vertikales Nähwerkzeug» dienen. Soziale, infrastrukturelle und technische Ebenen müssen in diesem Entwurf miteinander verwoben werden. Das Büro «Taller» der KuratorInnen entwarf beispielsweise einen Park, der mit der Überschwemmungsproblematik des Orts umging und einen Pavillon für die Öffentlichkeit bot. Somit wird gleichzeitig auf die sonst unsichtbaren technischen Strukturen und deren problematischen Zustand aufmerksam gemacht.

Materialkreisläufe

Die Idee des Sichtbarmachens von zunächst nicht wahrnehmbaren Strukturen greift auch die dritte Ausstellung «Cycles» auf, kuratiert von Pamela Prado und Pedro Ignacio Alonso. Einleitend stellt eine Serie von Filmen die globalen Materialkreisläufe und die Auswirkungen von deren Herstellungsprozessen bildlich dar. Bauen sei eine Entscheidung der Dekonstruktion – die Gebäude werden in ihre einzelnen Bestandteile und Materialien segmentiert. Deutlich wird das Ausmass der globalen Ausbeutung von Arbeitskräften, die irreparablen Veränderung der Umwelt durch den Abbau von Ressourcen und deren Einflüsse auf die sozialen und ökologischen Systeme. Es ergibt sich eine vernetzte Sichtweise der politischen Ökonomie des Raums.

Ein weiteres Projekt, entstanden im akademischen Rahmen des «collectif invisible», hat hier seinen Weg in die Praxis gefunden. Innerhalb ihres Projekts dekonstruiert das Kollektiv zunächst die Bestandteile eines Einfamilienhauses und begab sich dann auf deren weltweite Produktionspfade. Zunächst wurden die Auswirkungen kritisch reflektiert und die CO₂ Bilanzen dokumentiert. Anschliessend entwarf das Kollektiv in anschaulichen Studien Modelle und Strategien, um die vorgefundenen Bestandteile durch lokale Materialien zu ersetzen. Somit konnte ein Bewusstsein für die ansonsten versteckten Strukturen entwickelt und alternative Ausführungen des Gebäudes diskutiert werden.

Visionen der Architektur

Ähnlich ideellen Projekten widmet sich die Ausstellung «Visionaires». Die Kuratorin Anastassia Smirnova sammelt Beiträge, die in ihrer Zeit und ihrem Kontext visionär waren oder sind. Durch die Ausstellung leitet ein langer Vorhang. Er verkleidet die Wände, segmentiert die Räume und lädt durch Öffnungen zum Eintreten ein. Die drei Beiträge unterteilen sich in unterschiedliche Kategorien – den Intimen, den Kathedralen und dem Monovisionären.

Die Kategorien «Intim» und «Monovisonär» werden mit zwei Filme des Büros Brandlhuber + dargestellt. Sie zeigen in Zusammenarbeit mit JournalistInnen und KünstlerInnen ein von ihnen entwickeltes Projekt. Im Berliner Stadtteil Lichtenberg ragen zwei grosse Betontürme des einstigen VEB Elektrokohlewerk aus einem brachliegenden Industrieareal. «San Gimignano Lichtenberg» betitelten die EntwicklerInnen den Ort und mit ihm sollte die Dekodierung der Funktion und Nutzung folgen. Entscheidend ist die «Ehrfurcht vor Pragmatismus und Sparsamkeit». Durch minimale technische Eingriffe entsprechend der rechtlichen Auflagen und Anforderungen wird das Gebäude revitalisiert.

Der Beitrag der Kategorie «Kathedralen» liegt in einer anderen Zeit – Mitte des 20. Jahrhunderts. Der belgische Architekt Van der Laan näherte sich durch ähnlichen Pragmatismus und vor allem stringenter Rationalität seinem Entwurf. Als Alternative zum Goldenen Schnitt erschuf er die „Plastische Nummer“ aufgrund der grösst- und kleinstmöglichen Teilung durch die Zahl Sieben. Seine Kloster- und Kirchenarchitekturen formulierten ein gesamtheitliches Werk, in dem er dessen Mobiliar und die Kleidung der Bewohnenden zusätzlich diesem Prinzip unterwarf. Die Idee war es, einen demokratischen und universellen Zugang zum Entwerfen zu erschaffen und durch den universellen Anspruch den konventionellen Rahmen das Kloster zu erweitern.

Im Mittelpunkt der Umwelt

Ein weiteres belgisches Büro begleitete die Triennale als unabhängiges Projekt. «Baukunst» reflektiert in seiner Ausstellung durch eigene und studentische Arbeiten die Beziehung zwischen Forschung und der gebauten Realität. Eine Szenografie aus Filmen, Animationen und Modellen verteilen sich an den Wänden und im Raum der Galerie.

«Architektur ist konkret, doch ihre Grenzen verschwimmen». So wird die Idee eingeleitet, Architektur und Technologie als künstlerische Praxis zu definieren. Im Mittelpunkt steht der Bezug des Objekts zu seiner Umwelt – dem Wind, der Sonne, den unterschiedlichen klimatischen Einflüssen. Aus der Untersuchung von technologischen Anforderungen und Instrumenten wird aus den vermeintlich geschlossenen Formen eine Strategie zum Entwerfen entwickelt. Diese ergibt die Möglichkeit, Wissen zu generieren, das eine neue Perspektive auf die infrastrukturellen Aspekte ermöglicht. Sie unterliegt dem Anspruch, eine transformative Kraft gegenüber gegenwärtigen Herausforderungen zu entfalten.

Die Parallelität der ausgestellten Objekte trotz ihrer unterschiedlichen Entstehungskontexte verwischt die Aufteilung zwischen Forschungsarbeiten und realen Projekten des Büros. Verstärkt wird der Eindruck durch die hyperrealistischen Darstellungsformen der Projekte, die teilweise eine Unterscheidung zwischen dem Realen und Fiktiven nicht erkennen lassen. Theorie und Praxis werden in ihrer Umsetzung und ihrem Ausdruck fluide.

Zwischen Theorie und Praxis

Zusammenfassend lassen sich innerhalb der gesamten Triennale einige verbindende Themen ausmachen. Wie zum Beispiel das Sichtbarmachen im Entwurf von technischen, sozialen und ökologischen Prozessen unter dem Anspruch, daraus funktionierende öffentliche Räume für die Gesellschaften zu kreieren. Gleichzeitig werden immer wieder die Herausforderungen und auch mögliche Strategien thematisiert, diese Ideen in die Realität umzusetzen. Damit einher geht die Rolle der Architekturschaffenden, die sich in jedem Kontext mit seinen spezifischen Schwierigkeiten und Anforderungen neu definieren lässt.

Im Grunde ist die Triennale als ein multiperspektivisches Konglomerat an diversen Beiträgen zu lesen. Die eingebetteten Projekte bieten durch vielfältige Berührungspunkte mögliche Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit. Dabei diktieren die jeweiligen Umfelder die Bedingungen der Projekte und die Definition ihrer ProtagonistInnen. Architektur wird weniger als gebautes Objekt, als eine komplexe kulturelle Praxis beleuchtet, die sich ihre Medien stetig neu suchen muss.

Die Vortragsreihe «Talk Talk Talk», die Ende Oktober im Rahmen der Triennale stattfand, gibt es zum Nachschauen auf Vimeo.