Antrittsbesuch im Geotechnik-Labor
Die ETH Zürich nimmt Ende des Jahres ihre neue Forschungszentrifuge in Betrieb. Sie erlaubt den Forschenden, die Auswirkungen von Naturkatastrophen auf Bauwerke und Infrastrukturen zu untersuchen. Bei einem Besuch auf dem Hönggerberg erläutert Professor Ioannis Anastasopoulos die Anlage und deren Funktion.
Wer im Innenhof des HIF-Gebäudes an der ETH Zürich steht, ahnt nicht, dass er sich direkt über der leistungsstärksten Forschungszentrifuge Europas befindet. Lediglich eine Bodenklappe für Unterhaltsarbeiten ist zu sehen. Darunter verbirgt sich ein 245 Tonnen schwerer, auf Stahlfedern gelagerter Stahlbetonzylinder, in den im Sommer 2021 die rund 20 Tonnen schwere Zentrifuge millimetergenau eingesetzt wurde – ein Erbstück der Ruhr-Uni Bochum. Allerdings wurden für die künftige Arbeit an der ETH Lager, Motoren, Hydraulik und Elektronik erneuert.
Wie es dazu kam, dass die Forschungszentrifuge der ETH als erste weltweit schwingungsisoliert ist, erklärt Professor Ioannis Anastasopoulos vom Departement Bau, Umwelt und Geomatik (D-BAUG): «In direkter Nachbarschaft wird derzeit das neue Forschungsgebäude für Quantenphysik gebaut. Die Geräte und Versuchsaufbauten, die hier später verwendet werden, sind hochsensibel. Durch die Lagerung der Zentrifuge auf speziellen Stahlfedern können wir verhindern, dass sich die Schwingungen im Untergrund des Campus ausbreiten und die Arbeit in den Nachbargebäuden beeinflussen.»
Die neue Balkenzentrifugenanlage erstreckt sich über zwei Geschosse. Im oberen Stockwerk betritt man zunächst das Modellvorbereitungslabor und gelangt von dort zur Einhausung der oberen Achse der Zentrifuge. Direkt unter der Zentrifugenkammer ist der Stahlbalken zu finden, an dessen beiden Armen sich Schwingen befinden, auf denen die Modelle und Gegengewichte montiert werden. Im Nebenraum sind Hydraulikpumpen sowie Energie- und Steuereinheiten untergebracht.
Und warum der ganze Aufwand?
Erdbeben, Bodenbewegungen, Überschwemmungen und Tsunamis einerseits; Staumauern, Gebäude oder Brücken andererseits – in der Schweiz gibt es beides reichlich. Wobei die Naturkatastrophen tendenziell zunehmen und viele Bauwerke bereits ein gewisses Alter erreicht haben. Mit Zentrifugenmodellversuchen lassen sich geotechnische Fragestellungen bei vertretbarem Aufwand und in grösserer Versuchszahl unter realitätsnahen Bedingungen untersuchen.
Mit Hilfe der physikalischen Modellierung lassen sich Erkenntnisse über die Schlüsselfaktoren ableiten, die die Leistung geotechnischer Systeme beeinflussen und numerische Modelle richtig einordnen. Am Ende geht es darum, die Effizienz möglicher Lösungen zu bewerten.
Dank vielfacher Erdbeschleunigung zum Ergebnis
Bereits 2001 installierte man an der ETH eine Trommelzentrifuge mit 2.2 Meter Durchmesser und einer Kapazität von 440 g Tonnen. Ioannis Anastasopoulos erklärt den Unterschied: «Die Trommelzentrifuge kann man sich wie eine überdimensionierte Waschmaschine vorstellen, die von oben beladen wird.» Die Balkenzentrifuge hingegen habe den grossen Vorteil, dass das Modell ohne 90°-Drehung eingebaut werden kann. Dies dank der Schwinge, die sich progressiv mit zunehmendem g-Level dreht – vergleichbar mit einem Kettenkarussell.
Dadurch steht die Modellbasis immer senkrecht zum Beschleunigungsvektor. Jede Schwinge hat eine Plattform von 1.25 x 1.25 m, auf der der Erdbehälter platziert wird. Mit einem effektiven Durchmesser von 8.25 m kann die Zentrifuge bei einer Nutzlast von 2 Tonnen auf bis zu 250 g beschleunigt werden. Seine Kapazität von 500 g Tonnen ist die grösste in Europa. Zum Beispiel entsprechen 30 cm Boden in der mit 100 g beschleunigten Zentrifuge einer Tiefe von 30 m in der Realität.
Das erhöhte Gravitationsfeld ist unverzichtbar, um eine realistische Modellierung des Bodens in einer verkleinerten Laborumgebung zu erreichen. Da das Verhalten des Bodens weitgehend vom jeweiligen Spannungsniveau abhängt, können Modelle, die den geometrischen Massstab der realen Situation (Bodenschichttiefe, Abmessungen des Bauwerks) lediglich verkleinern, keine realistischen Ergebnisse liefern. Durch die Erhöhung des Gravitationsfeldes erreicht die Zentrifuge, dass sich die Spannung korrekt skalieren und messen lässt.
Die 250-fache Erdbeschleunigung sei jedoch nur in Ausnahmefällen notwendig, meint Anastasopoulos. In der Regel reichen 100 g, was auch den Vorteil habe, dass man die Versuche besser beobachten kann.
Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch der Zeitfaktor. Um zu simulieren, wie sich zum Beispiel ein Damm oder eine Brücke bei einem Hochwasser verhält, ist eine Verkürzung des Ereignisses hilfreich. Wird das Damm-Modell im Massstab 1:100 bei 100-facher Erdbeschleunigung angeregt, läuft das Hochwasserereignis im Versuch 100x schneller ab als in der Realität: Drei Tage in weniger als einer Stunde.
Dank einem speziellen Erdbebensimulator – der auf die Zentrifugenschwingen aufgesetzt werden kann – können horizontale seismische Bodenbewegungen und damit reale Erdbeben nachgebildet werden. All diese realitätsnahen Modelle ermöglichen Rückschlüsse auf die Stabilität kritischer, für die Versorgung wichtiger Infrastrukturen, sowie auf das potenzielle Risiko von Bodenbewegungen aufgrund von Erdbeben, Erdrutschen, Tsunamis oder Flusserosionen.
Weitere Informationen
Mehr zur Forschungszentrifuge finden Interessierte auf der Website des Geotechnical Centrifuge Center (GCC): geotechnics.ethz.ch/geotechnical-centrifuge-center.html
Die Professur für Geotechnik bietet zudem Führungen bzw. Besuche in der Forschungszentrifuge an. Die Führung am 29.11.2022 ist bereits ausgebucht. Weitere Termine sind vorgesehen, aber noch nicht fixiert.
Hier gehts zum Veranstaltungskalender der ETH.