Ar­chi­tek­tur als Stadt­ge­spräch

Meinung

Die Überbauung Burgernziel gibt in Bern zu reden. «Wozu Wettbewerbe, wenn anders gebaut wird als prämiert?», wurde gefragt. Verschiedene Umstände haben zu einer insgesamt bemerkenswerten Realisierung, aber zu einer missglückten Strassenfassade geführt.

Data di pubblicazione
24-05-2023

Eine Anforderung für hohe Baukultur ist eine breite öffentliche Debatte über die Qualität eines Orts. Sie findet nur selten statt. In Bern allerdings ist die Überbauung Burgernziel Gegenstand lebhafter öffentlicher Diskussion geworden. Diese hat zwar keinen Einfluss mehr auf die verunglückte Fassade zur historischen Ausfallachse, kann aber zum Lehrstück für die Entwicklung künftiger Projekte werden.

Eine lange Entstehungsgeschichte

Es geht um eine für Bern grosse Wohn- und Geschäftsüberbauung, die kürzlich auf dem Areal eines ehemaligen Tramdepots fertiggestellt worden ist. Mit klaren Vorstellungen zu einer vielfältigen Nutzung schrieb die Einwohnergemeinde Bern als Landeigentümerin 2012 einen offenen Projektwettbewerb aus, den ds.architekten Basel mit einem städtebaulich überzeugenden Vorschlag gewannen: Der ununterbrochene drei- und viergeschossige Baukörper wirkt als Schutz zur lärmigen Thunstrasse, Wohn- und Arbeitsräume sind vor allem auf die gegenüber liegende Seite, zum bestehenden Wohnquartier, ausgerichtet.

Obwohl die Abgabe des Terrains im Baurecht stets vorgesehen war, liess die Stadt das Projekt unter eigener Ägide mehrfach überarbeiten. Erst danach wurde die Übernahme des Baurechts für das Areal mitsamt dem Projekt öffentlich ausgeschrieben. Eine Bietergemeinschaft, bestehend aus der Gebäudeversicherung des Kantons Bern GVB und der Wohnbaugenossenschaft acht wgb8, erhielt 2016 den Zuschlag. Nach der langwierigen Löschung von alten Dienstbarkeiten wurde das Baugesuch 2018 eingereicht und im folgenden Jahr bewilligt. Das Gebäude wurde von der Firma Losinger Marazzi als Totalunternehmerin von Mitte 2020 bis Ende 2022 erstellt.

Der Wechsel der Verantwortung für das Bauprojekt, von der Stadt als Grundeigentümerin zu GVB und wgb8 als Bauträgerinnen, mag einer der Gründe für die teilweise problematische Realisierung sein. Die «neuen» Bauherrschaften hatten zur Projektwahl nichts zu sagen und mussten ein fertiges Projekt übernehmen. Das färbt auf das Engagement ab; offenbar haben die beiden Bauherrschaften ihre eigene Verantwortung für die baukulturelle Qualität nicht wahrgenommen und sich kaum um die Erscheinung ihres Baus im Stadtganzen gekümmert. Das blieb dem Totalunternehmer, dem die Architekten unterstellt waren, vorbehalten.

Nach dem Wettbewerb ist vor der Projektierung

Der Wettbewerb hatte ein sehr gutes Gesamtkonzept ergeben. Die Grundanlage des Siegerprojekts – durchgehende Lärmschutzzeile zur Strasse, kammfömiger Übergang zum bestehenden Quartier – überzeugt nach wie vor.

Die mehrfach überarbeiteten, sehr grosszügigen Wohnungsgrundrisse profitieren von der zweiseitigen Belichtung und den Wohnhöfen. Die urbane Mischung von Wohnungen, Arbeitsplätzen, Grossverteiler, Gastronomie, Läden sowie Kita und Basisstufe ist für den Ort adäquat. Der breite Wohnungsmix sorgt für eine vielfältige Bewohnerschaft. Im Bereich der beiden Genossenschaftsflügel stehen gemeinsam nutzbare Räume zur Verfügung. All diese Qualitäten sollten in der Debatte nicht untergehen. Sie sind das Ergebnis des Wettbewerbs, aber auch der nachfolgenden guten Arbeit aller Beteiligten, auch der Architekten.

Allerdings verpassten diese die Aufgabe, im äusseren Ausdruck des Gebäudes das einzulösen, was sie sich selbst als Ziel gesetzt hatten: die enge Orientierung an den bestehenden Fassaden im Quartier aus der Zeit um 1900. Die Gebäude auf der gegenüberliegenden Strassenseite zeigen diese Prinzipien klar auf. Sie arbeiten mit straffen Hierarchien, vermeiden banale Wiederholungen, gliedern die Fronten mit Vor- und Rücksprüngen. Das ergibt zusammen ein lebendiges Spiel von Licht und Schatten, erlaubt dem Auge sich zu orientieren. Im Jurybericht wird denn auch kritisiert, dass die vorgeschlagene Fassade monoton wirke und die Schlitze der Hauseingänge zu wenig wirksam seien. Auf diese explizite Kritik reagierten die Architekten in der Folge indessen nicht.

So erfüllt die zur Thunstrasse gerichtete Fassade des Neubaus ihre Aufgabe als adäquate Begrenzung eines wichtigen öffentlichen Raums nicht. Das ist nicht bloss eine Geschmacksache. Die drei zögerlichen Einschnitte bei den Treppenhäusern der Wohnteile genügen nicht, um die zweihundert Meter lange Fassade zu gliedern, die im Wohn- und Gewerbeteil je durchgehend identischen Fensteröffnungen wirken monoton, die Schaufenster im Erdgeschoss geben keine Auskunft über die Nutzung und sind zur Hälfte blickdicht verklebt, der Fassade fehlt Tiefe; die unterschiedlichen Rippungen der Keramikelemente werden zum bloss aus der Nähe wahrnehmbaren Dekor. Nicht durch seine Grösse, wohl aber durch seine ungegliederte Eintönigkeit wird der Bau zum Moloch, der das Quartier als Ganzes beeinträchtigt. Auch die in einigen Jahren zu pflanzende Baumreihe wird bloss «Architekten-Trost» sein, die Starrheit der Fassade nicht mildern.

Es ist erfreulich, dass die Öffentlichkeit eine solche architektonische Fehlleistung nicht einfach hinnimmt. Strassenräume und die sie begleitenden Bauten sind ein wichtiger Teil des Lebensraums aller Menschen. Es darf ihnen nicht gleichgültig sein, wie sie aussehen. In privaten Gesprächen, im politischen Diskurs und in mehreren Artikeln in Tageszeitungen (hier, hier und hier) wurde über das «fleischkäsfarbene Monstrum» diskutiert.

Anforderungen an die Minimierung der Klimaschädigung

Im Wettbewerb waren Projekte verlangt, die die Anforderungen von Minergie-P-Eco erfüllen. In der ersten Phase der Weiterbearbeitung wurde von der Stadt zudem gefordert, es sei der Standard eines 2000-Watt-Areals einzuhalten und mehrere Änderungen ermöglichten es, dieses Ziel zu erreichen. Dennoch verlangten die Auftraggeber während der Bauphase von den Architekten, dass die im Wettbewerb vorgeschlagene und bis dahin beibehaltene Fassade, die von einer markanten Bänderung mit Betonbrüstungsstreifen und dazwischen liegendem, in der Ebene zurückgesetztem Klinker-Sichtmauerwerk gekennzeichnet war, durch eine vorgehängte Konstruktion zu ersetzen sei. Die Architekten hatten diese Vorgabe umzusetzen und taten dies mit der realisierten Fassade aus Keramikplatten.

Die Architekten scheinen zu dieser Projektänderung zu stehen. Auch die Jurydelegation nahm die Änderung widerspruchslos hin, «überrumpelt, leichtgläubig und zu wenig aufmerksam», wie ein Mitglied heute sagt. Das Mock-Up der Fassade sah die Delegation nicht. Das alles tönt nicht nach Professionalität.

Folgerungen für künftige Wettbewerbe

Der Wettbewerb hat in vielen Teilen zu einem guten Resultat geführt. Es ist ein robustes Grundkonzept prämiert worden und entstanden ist ein Baukomplex, der in seiner Gesamtvolumetrie verträglich ist, die städtische Lärmproblematik ernst nimmt, eine Durchmischung von Nutzungen und sozialen Schichten gewährleistet, mit lebenswerten Innenhöfen einen guten Übergang zum bestehenden Quartier schafft und höchste Klimaziele erreicht.

Der insgesamt gute Eindruck wird durch die missglückte Strassenfassade getrübt. Sie ist auf eine Kette von Entscheiden zurückzuführen. Dazu gehören der Wechsel der Bauträgerschaft, die lange Zeitspanne zwischen Wettbewerb und Realisierung, das Nichteingehen auf die Kritik der Wettbewerbsjury, die ungenügende Begleitung durch den Ausschuss der Jury und die Unterstellung der Architekten unter den Totalunternehmer. Während Jahrzehnten wird diese Erscheinung des Blocks das Quartier prägen.