Ver­di­ch­tung im Be­stand statt Ver­ni­ch­tung des Be­stands

In der Fachwelt hat ein Umdenken eingesetzt: weg vom Ersatzneubau, hin zu einem ressourceneffizienten Umgang mit dem Bestand. Trotzdem dominiert im Zürcher Grossraum noch immer die Praxis von Abriss und Neubau. Dafür sorgen zahlreiche systemische Hürden.

Data di pubblicazione
08-01-2024
Witali Späth
Projektleiter RZU (seit Juli 2023 Stadtplanung St. Gallen)

Nach einem über 20 Jahre andauernden bauwirtschaftlichen Boom haben sich in den letzten Jahren die Vorzeichen verändert: Die Klimakrise hat sich mit der globalen Pandemie und dem dramatischen Artenschwund zur Mul­tikrise ausgeweitet. Seit 2022 ruft der Ukraine-Krieg zusätzlich ins Gedächtnis, dass die enorme (fossile) Energie- und Ressourcenabhängigkeit unserer Lebens- und Wirtschaftsweise dringend reduziert werden muss.

Auch die Planung ist unmittelbar davon betroffen, wie die aktuell entstehende «RZU-Strategie 2050» des Planungsdachverbands Region Zürich und Umgebung (RZU) zeigt. Entlang von sechs Schlüsselthemen werden die Leitplanken für eine zukunftsfähige Entwicklung gesetzt. Dabei ist das Thema der Siedlungsverdichtung und -erneuerung in besonderer Weise mit Energie- und Ressourcenfragen verknüpft, weshalb ihr die RZU von 2021 bis 2023 einen eigenen Erfahrungsaustauschprozess namens «Zukunft Bestand» widmete. Ein wichtiges Ziel war, die Gründe für die im Zürcher Grossraum dominante Ersatzneubau-Praxis zu erhellen, bei der Verdichtung mit Abriss und somit mit hohen Wertverlusten am Bestand einhergeht. Der mit Expertinnen und Praktikern durchgeführte Erfahrungsaustausch zeigte auf, dass zahlreiche systemische Hürden eine Verdichtung mit weniger Abriss verhindern:

Hohe Standards: Das Bauen in der Schweiz unterliegt höchsten Sicherheits-, Qualitäts- und Komfortan­sprüchen, die durch ebenso hohe rechtliche und bautechnische Anforderungen sichergestellt werden. Daraus resultiert eine Bauindustrie, die auf Neubau konditioniert ist, weil so diesen Normen und Anforderungen am besten entsprochen werden kann. Ein ressourceneffizienter und suffizienter Umgang mit Bestand (z. B. Aufstockung) wird erschwert, weil die nötigen Abweichungen von diesen Vorgaben oder Ausnahmen aufgrund von Rechts- und Prozessrisiken kaum zugelassen werden. Die Erdbebensicherheit ist beispielsweise schweizweit auf denselben Worst-Case-Szenarien normiert, obwohl das Risiko regional stark variiert.

Hohe Nutzungsreserven: Aufzonungen erhöhen den Anreiz zum Ersatz, sodass auch Gebäude lange vor ihrem technischen Lebensende oder gar kurz nach einer Sanierung abgerissen werden. Die hohen Investitionskosten für einen Ersatzneubau müssen wiederum über eine höhere Ausnutzung und Neumiete kompensiert werden, vor allem wenn vorab eine Bestandsliegenschaft zum Marktpreis erworben wurde. In der Regel bedeutet dies den Komplett­austausch der bisherigen Mieterschaft.

Städtebauliche Disziplinierung: Beurteilungsgremien folgen heute immer noch mehrheitlich einer am Neubau orientierten Entwurfshaltung, die zu harmonischen und einheitlichen Lösungen tendiert. Zusätzlich kommt eine substanzielle entwerferische Auseinandersetzung mit den Weiternutzungsmöglichkeiten des Bestands oft zu kurz, weil die Weichen Richtung Neubau oder Bestandsentwicklung bereits vor den Wettbewerbsprogrammen gestellt sind, ohne eingehende Prüfung anderer Optionen.

Keine Kostenwahrheit und teure Arbeit: Dass Bestandsertüchtigung oft als Kostenrisiko gilt und Ersatzneubau sich für Investoren rechnet, hat auch damit zu tun, dass Arbeit teuer und Material zu günstig ist, ­gerade weil Umweltkosten externalisiert sind. Der CO2-Preis1 liegt aktuell bei 70 Euro pro Tonne, für eine Inter­­na­li­sie­rung wären aber gemäss deut­schem Umweltbundesamt 180 Eu­ro nötig. Gleichzeitig sind die Lohnkosten in der Schweiz hoch, sodass der handwerklich geprägte Umbau des Bestands gegenüber einem Neubau ökonomisch betrachtet das Nachsehen hat.

Trügerische Ökobilanzierung: Es ist unbestritten, dass die Treibhausgas­emissionen des «Gebäudeparks» gesenkt werden müssen und dass dies primär über Sanierungen erfolgen soll. Allerdings wird der Energie­bedarf von Gebäuden oft nur mit Heizen und Stromverbrauch asso­ziiert. Der Ersatz von «energiefressenden» Altbauten durch «ökologischere» Neubauten wird deshalb nach wie vor als effektiver Hebel zur Klimazielerreichung propagiert. Zudem schreibt die Politik dem «Gebäudesektor» nur die Emissionen des Betriebs zu, da jene der Erstellung im Sektor «Industrie» oder im Fall importierter Baustoffe im Ausland bilanziert werden. Dies hat zur Folge, dass die grauen Emissionen des Bauens bis heute massiv unterschätzt werden.

Langer Weg vom Umdenken zur Praxis

Über die letzten Jahre lässt sich ein Umdenken erkennen – zumindest in der Fachwelt: Graue Emissionen haben eine nie dagewesene Aufmerksamkeit erlangt, und zwar nicht nur hinsichtlich der Erstellung, sondern auch in Bezug auf jene Energie, die in noch intakter Bausubstanz steckt und beim Abriss verloren geht. In der Neuauflage des Zertifikats­ Stan­dard Nachhaltiges Bauen Schweiz (SNBS) fliesst diese erstmals in die Gesamtbilanz ein, indem der Erhalt von Bauten, die eine bestimmte ­Nutzungsdauer noch nicht erreicht haben, honoriert wird.2

Um aber die systemisch bedingte Neubaudominanz zu brechen, muss die Weiternutzung und Ertüchtigung intakter Strukturen gegenüber dem Ersatzneubau auf ­vielen Ebenen be­günstigt werden – beispielsweise durch prozessuale und rechtliche Bevorzugung, die das Mehr an Aufwand und Unvorhersehbarkeit beim Umgang mit Bestand teilweise kompensiert. Im Baurecht und der Bewilligungs­praxis könnte zwischen Neu- und Um- oder Weiter­bau so unterschieden wer­den, dass die «Besitz­stands­ga­ran­tie» auch bei tiefergehenden Eingriffen in den Bestand greifen würde. Heute gilt eine Massnahme zu schnell als «neubauähnlich», was entsprechende (Neubau-)Anforderungen nach sich zieht.

Der Reformbedarf beginnt schon beim Sprachlichen: Häufig wird von «nachhaltigem Bauen» ­gesprochen. Bauen ist jedoch immer mit dem Ein- und Umsatz von Ressourcen und Energie verbunden und per se umweltbelastend. So soll selbst der mit sämtlichen Öko-Features bedachte «Hortus» in Allschwil, eines der ersten klimaneutralen Bürohäuser der Schweiz, die Energie seiner Erstellung erst nach 27 Jahren amortisieren können.

Mit «nachhaltig» kann also nur ein vernünftiges Verhältnis von Eingriff und Wirkung gemeint sein. Ein Prinzip, das sich der umsichtigen Praxis der Denkmalpflege entnehmen lässt: Gesetzlich gestützt durch das Primärziel Denkmalerhalt, ist ein fallweise geregelter Umgang mit Bestand, der auch das Abweichen von energetischen oder sicherheitstechnischen Anforderungen erlaubt, bereits selbstverständlich. Eine derartige Haltung gegenüber dem Bestehenden könnte dazu beitragen, einen guten Ausgleich zwischen Ressourcen- und Energieeinsatz, dem Substanz- und Werteverlust und den neu geschaffenen Werten zu erreichen. Unter solchen Vorzeichen kann Verdichtung in Zukunft im Bestand stattfinden und nicht mehr wie bis anhin anstelle des Bestands.

Anmerkungen
 

1 Die Schweizer Industrie partizipiert seit 2020 am EU-Emissionshandel, der bislang aber nur für Bauprodukte aus der Schweiz oder der EU gilt. Eine CO2-Abgabe auf Importe von ausserhalb besteht noch nicht.


2 vgl. Netzwerk Nachhaltiges Bauen Schweiz NNBS (Hg.), Kriterienbeschrieb SNBS-Areal.
Alle Nutzungskategorien, 13.9.2023, S. 118.