Lob des Hand­werks

Salone del Mobile 2024

Die 62. Ausgabe des Salone del Mobile in Mailand schloss am Sonntag ihre Tore mit einer Rekordzahl von über 360'000 Besucherinnen und Besuchern. Zeitgleich mit der grössten Möbelmesse der Welt fand innerhalb der Stadt die Milan Design Week statt, auch bekannt als Fuorisalone. Ein Rückblick auf die besten Locations, Inszenierungen und Neuheiten.

Data di pubblicazione
24-04-2024

Aus der Sonne ins Dunkel: Unter den vielen Orten, die während der Mailänder Designwoche vergangene Woche zu entdecken waren, stach der Hermès-Showroom heraus. Mitten im Quartier Brera lud der Luxushersteller ein, in der Halle La Pelota in eine Welt einzutauchen, die Vergangenheit und Gegenwart aufs Schönste verblendete. 

Ein nahezu meditativer, dunkel gehaltener Ort empfing die Besucherinnen und Besucher. Den Boden bedeckten in einer Art Mosaik verschiedene Arten von Stein, Erden, Holz und Terrakotta-Ziegeln, über Stege wandelnd erkundete man den Raum wie eine archäologische Stätte. Die eigentlichen Objekte von Hermès verbargen sich hinter einer 35 m langen und 6 m hohen schwarzen Hängewand. 

Dabei trafen Objekte aus dem Archiv des Hauses auf aktuelle Arbeiten. So lag ein Kalbsleder-Armband aus dem Jahr 1970 neben einen neuen Korb aus beidseitig gefärbten Lederstreifen, die silberne Timour-Halskette aus dem Jahr 2002 gesellte sich neben den neuen Lounge Chair «Diapason d'Hermès», den das Hermès-Studio dieses Jahr als Hommage an das Schmuckstück entworfen hat und ein von Virginie James entworfenes Tafelservice zeigte, wie Pferdegurte aus dem Jahre 1950 das Dessin der Designerin beeinflusste. 

Auf eine andere Art sophisticated präsentierte sich die Schau der italienischen Keramik-Manufaktur Mutina. Die Installation glich einem Spaziergang durch die Welt von Ronan Bouroullec. Der französische Designer hat mit «Osso & Bottone» eine Kollektion von strukturierten Fliesen entworfen, die innen und aussen eingesetzt werden können. Im Kellergeschoss selbst ist die Kollektion «Adagio» der Star der Räume. Die bügelartigen Keramikmodule können zu netzartigen Wandskulpturen zusammengesetzt werden. Stimmig kombinierte Bouroullec die Wandarbeiten mit neuen Keramikvasen und -kerzenleuchtern, die seinen meisterhaften Umgang mit Farbe und Material demonstrieren. 

Fuorisalone Award für innovatives Glas

Ein Lob des Handwerks war auch die Ausstellung «Re/Creation» des tschechischen Glasherstellers Lasvit im Palazzo Isimbardi am Corso Monforte. Im Zentrum stand die monumentale Installation «Porta» des Art Directors der Marke, Maxim Velcovsky. Das Werk bestand aus zehn bis zu 5 m hohen Skulpturen aus geschmolzenem Glas, die handwerkliches Können im industriellen Massstab zeigten. 

Der Titel der Präsentation bezog sich auf die innovative Schmelzglastechnologie des Herstellers. In extremer Hitze geschmolzenes Glas verflüssigt sich und sinkt dabei in eine vorgegebene Form ein. Die im grössten Glasofen Europas gefertigte Installation zeigt eindrücklich die kreativen und technischen Möglichkeiten beim Einsatz von Glas in der Architektur – beispielsweise für Glasfassaden. 

Lasvit präsentierte darüber hinaus Neuheiten wie die Leuchtenkollektion «Nebula» des schwedischen Architekturbüros Claesson Koivisto Rune und die Leuchte «Neverending Glory» von Jan Plechac und Henry Wielgus in einer limitierten Goldedition. Für diese beeindruckende Inszenierung gewann Lasvit zu Recht den «Fuorisalone Award», der von der Community auf der Designwoche aus über 1100 Projekten gewählt wurde. 

Schweizer Präsenz an den Fuori Salone

Atelier Oï hatte im dritten Jahr in Folge zudem einen Auftritt in der Galleria Rossana Orlandi. In einem Raum im Erdgeschoss der stets gut besuchten Designgalerie zeigte das Studio seine Kollektion «Privé», Kleinserien an der Schnittstelle von Design und Kunst. Allesamt gingen aus der Zusammenarbeit mit einer Auswahl internationaler Kunsthandwerker hervor. Mit dabei waren unter anderem die Deckeninstallation «Hélicoïdale» aus Arvenholz, die Leuchte «Dysi & Dysa» sowie die «Gaïa»-Kollektion, die gemeinsam mit dem venezianischen Glasexperten WonderGlass entstanden ist.

Wie schon in den letzten Jahren lud das House of Switzerland zum Austausch in Sachen Schweizer Design in die Casa degli Artisti ein. Die kuratierte Gruppenausstellung zum Thema «Joy» wurde von der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia und Präsenz Schweiz präsentiert. Versammelt waren vor allem junge Designer, Designhochschulen wie die FHNW oder die ECAL und Galerien, renommierte Hersteller waren in dieser Ausgabe nicht vertreten. Mit Ausnahme eines in Mailand ungewohnten Gasts: Das Schweizer Einrichtungshaus Micasa lancierte gemeinsam mit dem Zürcher Designstudio Sula die limitierte Kollektion «Sole», eine sommerlich-bunte Kollektion aus Wohnaccessoires und Outdoor-Möbeln. 

Highlights im House of Switzerland waren unter anderem die Präsentationen der Designer Dimitri Bähler und Sébastien El Idrissi, die Porzellanentwürfe beziehungsweise den Pflanzenbehälter «Stack» für Swisspearl zeigten. Einmal mehr bestechend auch die Objekte der Genfer NOV Gallery. Unter dem Titel «Out of the Woodworks» verliehen Designer gebrauchtem Holz wie Sägemehl, Estrich-Holzlatten oder alten Stuhlbeinen ein neues Leben.

Aber nicht nur die grossen Stände der Fuorisalone überzeugten, auch die kleinen Standorte wollten entdeckt werden. So spannte der Badener Möbelhersteller WOGG mit dem Küchenhersteller Orea, dem Leuchtenhersteller Baltensweiler dem Möbellabel Weibelweibel und der Gartenmöbelhersteller Weishäupl zusammen. Gemeinsam bespielten sie die kleine Kirche All Saints in der Via Solferino. 

Zeitreise in die 1970er-Jahre

In den Showrooms der italienischen Big Player Zanotta und Cassina an der Via Durini erlebte man das Comeback der 1970er-Jahre. So präsentierte Zanotta unter anderem den Sessel «Gomma». Das knuffig-runde Sitzmöbel des italienischen Architekten- und Designertrios Gionatan de Pas, Donato d’Urbino und Paolo Lomazzi hat schon 55 Jahre auf dem Buckel, sieht aber frisch wie je aus. Die neu aufgelegte Variante ist aus pflanzenbasierten Schäumen, klebstofffrei verarbeitet und bringt einen abnehmbaren Filzbezug beispielsweise in Azurblau, Grün oder Orangerot mit.  

Bei Cassina feierte man die Sofa-Neuauflage «Cornaro» von Carlo Scarpa. Die bodennahe Polsterlandschaft mit geometrischem, dunkelrot glänzend lackiertem Holzrahmen kam erstmals 1973 auf den Markt. Die Polster der Reedition leuchten nun in Babyblau oder Avocadogrün.

Auch in den Messehallen in Rho Pero waren die Seventies zurück, etwa beim Entwurf «DS-888 Collina»: Die modularen Sitzlandschaft aus der Feder von Atelier Oï war der Shooting Star am Stand des Klingnauer Herstellers de Sede. Das neue Sofa – erhältlich als In- und Outdoor-Variante – ist dank ausgeklügelter Technik höchst flexibel. Herzstück sind die Rückenlehnen, die sich dank eines neu entwickelten und patentierten Mechanismus rundum verschieben und bequem in der Höhe verstellen lassen. 

Aktuell: Glas und Holz

Das Material der Stunde ist Glas. Beim italienischen Hersteller Glas Italia zeigte Patricia Urquiola, wie man aus einem Coffee Table und einer Konsole Schmuckstücke zaubert: Die «Remis»-Kollektion ist vollständig mit einem Mosaik aus gegossenen Glasfliesen in verschiedenen, unregelmässigen Farben bedeckt. Und die derzeit sehr gefragte niederländische Designerin Sabine Marcelis bewies erneut ihren poetischen und sorgfältigen Umgang mit spiegelnden Oberflächen und Farbnuancen: Beim italienischen Hersteller Acerbis zeigte sie Beistelltische, die wie flüssiger Honig erscheinen. Die Tische der «Lokum-Serie» bestechen durch ihre weichen Formen aus mundgeblasenem Glas in Amber- und Rauchtönen – und erinnern nicht umsonst an die gleichnamige türkische Süssigkeit. 

Aber auch Holz behauptet sich im Materialmix. Am Stand des bosnischen Labels Zanat bestach eine neue Kollektion des japanischen Architekten Naoto Fukasawa. «Genkan»  ist eine Kollektion von Flurmöbeln, darunter ein Konsolentisch, ein Spiegel und eine delikate Aufbewahrungsbox. Allesamt demonstrieren das handwerklich hohe Niveau der bosnischen Konjic-Schnitzerei, die als UNESCO-Weltkulturerbe anerkannt ist. 

Das Basler Architekturbüro Herzog & de Meuron lancierte beim deutschen Hersteller Classicon die skulpturale Sitzmöbel-Kollektion «Volkshaus». Neben Lounge Chair und Hocker aus Eichenholz, bespannt mit einer strapazierfähigen Kordel, umfasst die Kollektion einen passenden Side Table aus massiver Eiche. Ursprünglich für das gleichnamige Hotel in Basel entworfen, ist der Entwurf nun auch für den Privatbedarf erhältlich. Zentrales und verbindendes Gestaltungsmerkmal aller Möbel ist der Punkt, an dem sich die CNC-geschnittenen Holzbeine kreuzen und ineinandergreifen: Diese Holzverbindung erscheint einfach, ist tatsächlich aber hoch komplex – und entstand im Rahmen eines umfassenden Forschungsprozesses des Büros. Inspirieren liessen sich die Architekten dabei von traditionellen Holzverbindungen aus der japanischen Architektur.

Ein Hoch auf das Unperfekte

Wer sich nach all diesen Eindrücken von gestylten Wohnwelten nach dem Unperfekten sehnte, der wurde in der Triennale fündig. Dort zeigte die kleine Schau «La Casa Imperfetta», wie die französische Designerin Inga Sempé sich Wohnen vorstellt. 

Die Ausstellung bildet ein kleines Pariser Apartment ab, mit Schlafzimmer, Küche, Korridor, Vorraum und Aussenbereich, angefüllt mit von Sempé entworfenen Objekten, Trouvaillen, Fotos und Bildern – gerade so, als habe Inga Sempé nur kurz den Raum verlassen. Die Betrachtenden sind eingeladen, so zu interagieren, als befänden sie sich in einer echten Wohnung. Die Leuchten können ein- und ausgeschaltet werden, die Besucher können sich auf die Couch setzen, ein Buch lesen oder sich an den Küchentisch setzen und ein Gespräch führen. 

«Perfektion interessiert mich gar nicht! Wie langweilig die perfekten Häuser, die wir auf Instagram sehen, und die perfekten Menschen, die alles richtig machen», sagte Inga Sempé kürzlich in einem Interviw mit AD Italia. «Und selbst wenn ein Haus schön ist, gibt es immer einen Schwamm in der Ecke, der ein bisschen eklig ist, oder ein Loch, wo man ein Gemälde entfernt hat». Wie wahr.

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