Tan­sa­nia: Nach­hal­ti­ge Schu­le

In der nördlichen Savanne Tansanias auf 1000 m ü. M. steht das unkonventionelle Schulhaus «Simba Vision». Seine Architektur regt dazu an, darüber nachzudenken, was man zum Lernen, Leben und Lehren wirklich braucht – sowohl in Ostafrika als auch in der Schweiz.

Data di pubblicazione
26-07-2024

Das Auto kurvt im Sand um kleine, mit Gestrüpp bewachsene Hügel und bleibt schliesslich vor einer ersten Gruppe langer Zeilenbauten stehen. Sie gehören zu einem Schulkomplex und sind Teil der Africa Amini Alama, gegründet von den österreichischen Ärztinnen Christina Wallner und ihrer Tochter Cornelia. Der Verein besitzt mehrere Schulhäuser für insgesamt rund 1700 Primarschülerinnen und -schüler, weitere Gebäude für Sekundarschulen, ein Internatsgebäude, ein Ausbildungszentrum für Handwerker, zwei Spitäler, einen Garten für Heilpflanzen und vieles mehr.

Alles wird von den ­Massai geleitet, deren Gesellschaft sich langsam vom Nomadentum zur sesshaften Lebensweise wandelt. Einige leben weiter traditionell als Hirten, andere haben es in der Politik, im Tourismus oder in der Wirtschaft zu Wohlstand gebracht und wohnen in grossen Häusern – manche verbinden beides, denn Wohlstand und Nomadentum verweben sich hier für unsere schweizerischen Vorstellungen ungewohnt ineinander.

Zehn Minuten weiter einem Ausläufer des Usa Rivers entlang, der von einigen Feldern und Dornakazien sowie wenigen gemauerten Einfamilienhäusern gesäumt wird, liegt die Simba Vision School. Während der Regenzeit ist es hier grün. Doch gerade ist der Fluss ein Rinnsal, die Trockenheit verlangsamt das Wachstum der Pflanzen, Ziegen und Kühe und erhöht die Dichte des Staubs in der Luft. Wie überall in Tansania stehen auch auf dem Simba-Vision-Gelände für rund 320 Kinder Schulbauten in Zeilen. Sie wirken bescheiden, im Sinne von angemessen, nicht übertrieben und respektvoll gegenüber der Umgebung. Bescheidenheit, auf eine besondere Art mit Stolz und freundlich-­bestimmtem Menschenverstand verbunden, ist auch ein Charakterzug vieler Tansanier.

Draussen ist überall

Auf dem Boden markieren weisse  Steine die Wegränder und führen zum neuen zweistöckigen Schulhaus. Sie machen aufwendige Signaletik, Bodenbeläge und Randsteine überflüssig. Anstelle eines Zauns mit Tor wachsen Gestrüpp und Schirmakazien um das Areal. Zwischen diesen treten Gruppen von Kindern in dunkelgrünen Uniformen auf die Lichtung.

Die Mauersteine der Aussenwände des grossen Neubaus mit den rhombenförmigen Fenstern und den grünen Fensterrahmen wirken wie geometrische Zeichnungen auf den Schuppen eines Riesenchamäleons. Wie die Wände der klassischen Nachbarbauten bestehen sie aus Vulkansand mit Zementzuschlag. 

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Seit zwei Jahren bietet die Simba Vision 320 Kindern einen Ort zum Lernen. Ein Gespräch mit Lehrpersonen und Architekten über ihre Erfahrungen mit dem ganzheitlich konzipierten Gebäude. 

Einige Wochen vor der Reise nach Tansania erklärte mir Gunter Klix, einer der Gründer von APC Architectural Pioneering Consultants bei einem Treffen in der Zürcher Niederlassung des Büros, dass die Arthur Waser Stiftung als Initiantin der Simba Vison School anstelle eines üblichen Wettbewerbsprogramms räumliche Kriterien nach der Montessori-Pädagogik ausarbeitete. Dies ermöglichte es, das Gebäude so zu entwickeln, wie es dasteht.

Die Idee ist ein Schulhaus, das Innen und Aussen nicht als Gegensätze trennt, sondern die Landschaft durch die Geometrie der Raumabschnitte in die Architektur miteinbezieht: Neben jedem Innenraum liegt ein Aussenraum, zum Beispiel in einer Mauernische, es gibt Höhenunterschiede oder überdachte, aber seitlich ­offene Räume zwischen den Schulzimmern, in denen ebenfalls unterrichtet wird. Die Raumtypen schöpfen so das Beste aus den klimatischen Gegebenheiten. 

Sonnenwarme Kammern aus Lehm

Dieses Leitthema des Ineinanderfliessens begegnet einem zuerst bei den beiden offenen Haupteingängen. Im «Auge» der Treppe, das ein kleiner Hof ist, breitet sich eine gestufte, mit Flusssteinen besetzte «Landschaft» aus. Sie bietet Platz zum Sitzen, Unterrichten, Werken oder Springen. Bestimmt verirren sich auch die Ziegen aus der Umgebung hierher in den Schatten, und sicherlich schafft ein Bau mit solchen Bereichen eine besondere Beziehung zur Natur, zum Wetter und den Tieren. 

Das Gebäude hat keine Installationen zum Heizen oder Kühlen. Dafür liegen die Schulräume diagonal zur Längsrichtung des Baus und ragen mit ihren Ecken im Zickzack über die Aussenfassade hinaus. Die Anordnung bezieht sich auf die Landschaft und die Himmels- und Windrichtungen: Die leichte Drehung zur sonnenabgewandten Seite macht die Querlüftung effizienter. Die Sonne wärmt die kleinen Lernnischen zwischen den grossen Schulzimmern auf. So werden sie zu «Wärmekammern», die im Tagesablauf des Schulbetriebs die Möglichkeit zum ruhigen Arbeiten, Lesen und Aufwärmen am kühlen Morgen bieten. 

«Dieser Temperatur­kontrast zwischen Klassenzimmer und Nische kann pädagogisch abwechslungsreich bespielt werden. Gleichzeitig fühlen sich die Kinder in natürliche, zyklische Abläufe eingebunden; es entsteht ein Bewusstsein für die energetischen Prozesse, von denen der Mensch Teil ist», erklärt der für den Wettbewerbsbeitrag verantwortliche Architekt Wolfgang Rossbauer. 

Weitere Beiträge zum Thema «Nachhaltiges Bauen» finden sich in unserem digitalen Dossier.

Doch wenn Kinder, die in der Savanne leben, mit einem Nachthimmel, an dem man Millionen Sterne sieht, eine Einbindung in die natürlichen zyklischen Prozesse brauchen, wie nötig sind diese dann für Kinder in europäischen Städten? Oder brauchen sie eine solche gar nicht? Sie werden auf die Arbeit in einer Dienstleistungsgesellschaft in Büros vorbereitet, lernen eine PowerPoint-Präsentation über Nachhaltigkeit zu erstellen, und der Kontakt mit der Natur reduziert sich auf Urban-Farming-Strasseninseln und den wöchentlichen Pfadinachmittag. Entfernt ein Lernumfeld in dichten Quartieren mit Klassenzimmern, in denen vom Fenster aus manchmal nicht einmal ein Stück Himmel sichtbar ist, diese Kinder dann auch oder sogar umso mehr von der Natur?  

Vom Angemessenen und Lokalen

Im ersten Klassenzimmer, es ist gross und hoch, stehen die Schülerinnen und Schüler in ihren grünen Uniformen mit dicken Pullovern auf und singen zur Begrüssung ein Lied. Über ihren Wollmützen zeichnen starke, brandschutztechnisch notwendige Betonkassetten die Decken. Im Obergeschoss folgt dem Schrägdach aus Balkenlagen eine zeltartige Holzbrettverkleidung. Sie ist ebenso filigran wie die grünen Metall-Fensterrahmen. Alles andere ist grob, robust und steinern. Dies ist dem Einsatz von lokalen Materialien wie Vulkansand, Lehm oder Flusssteinen und dem Verzicht auf teure und unnötige Detail- und Abschlussarbeiten wie Sockelleisten oder einen Oberflächenputz geschuldet. 

Den Vorstellungen mancher europäischen Besucher von einem verfeinerten «Finishing» kommen die weiss gestrichenen Innenwände entgegen. Doch so ganz auch wieder nicht, denn unter der Farbe zeichnet sich jeder Stein unregelmässig ab. Eine glatte Wand wäre ein falscher Anspruch an die Fähigkeiten und Möglichkeiten der Handwerker gewesen und den Aufwand, perfekt regelmässige Steine aus Arusha herzutransportieren, wollte man sich sparen. Die Architektur geht auch aus dem Entscheid hervor, möglichst alles, von den Bausteinen bis zu den Fensterrahmen, vor Ort zu fertigen. 

Ein beinahe archaischer Ausdruck durchdringt den Bau und überschreibt die an raffinierte Oberflächen gewöhnte Wahrnehmung mit einem feinen surrealen Filter. Auf der Suche nach Vergleichbarem tauchen vor dem inneren Auge Bilder von aktuellen alternativen Wohnprojekten auf, wie etwa das Hallenwohnen in Genossenschaften oder kostengünstige ­Wohnungen ohne erweiterten Innenausbau, die aber natürlich wenig mit den Räumen der Simba Vision zu tun haben. 

Millimetergenaue Perfektion bei der architektonischen Ausführung hat nichts mit effizientem Lernen und einem angemessenen Austausch zwischen den Menschen zu tun. Aber Architektur kann zu denkerischer Offenheit beitragen, indem sie gedanklich und räumlich Platz für Entwicklung lässt.

Freizeit oder Freiheit

Offensichtlich lernen die Kinder hier, wie man putzt. Während ich ein Holztablett mit Schuhen, Wichse und Bürste auf einem einfachen Holzgestell betrachte, das aus Schalungsbrettern gebaut ist, denke ich an die Schulen in der Schweiz, mit dimmbarem Licht, mit automatischen Sonnenstoren oder akustisch gedämmten Türen, an die vielen Randsteine und die farbigen, abfedernden Kunststoffbeläge auf den Sport-, Pausen- und Spielplätzen. Überhaupt an den Sinn von Spielplätzen mit teuren und ordentlich angelegten «Geräten», die vorgeben, was wo gespielt wird und die etwas mit Freizeit, aber kaum etwas mit Freiheit zu tun haben.

Wenn also funktional diese zwar räumlich grosszügige, aber baulich einfache Ausgangslage in der Simba Vision für den Unterricht in Tansania genügt – weshalb sind Klassenzimmer und Schulhäuser bei uns so überinstrumentalisiert? Erfordert dies das andere Klima? Oder ist unsere aufwendige Bauweise eine Frage der Gewohnheit und unserer finanziellen Ausgangslage? Geben wir unsere Perfektionsmassstäbe bei Wahrnehmung und Gebrauch von Generation zu Generation weiter? Verändert das die Menschen auf die Dauer? 

Natürlich gibt es auch in Tansania Normen und Auflagen. Die Ausrichtung der grossen, fliessend ineinander überlaufenden Schul- und Nebenräume warfen Fragen auf. Die Beamten, die zur Bauabnahme kamen, wollten wissen, wo genau ein Klassenzimmer beginnt und wo es endet. Auch die kleinen Nischen in den Ecken waren ihnen suspekt – was denn darin passiere und ob die Lehrer das kontrollieren können? Doch am Schluss wurde alles genehmigt. 

Ein markanter zweistöckiger Bau

Die Kinder sind sichtlich stolz auf dieses spezielle, zweistöckige Gebäude mit den grossen hellen Räumen, das auf seine Art eine Landmarke in der weiten Savanne darstellt. Die verschiedenen Räume unterscheiden sich stark voneinander und einige wirken für die Massai-­Kinder, von denen viele in den traditionellen Rundhütten aus Lehm leben oder diese zumindest gut kennen, noch viel grösser und eindrücklicher als für Kinder aus Europa. 

Cornelia Wallner, eine der beiden Gründerinnen der Africa Amini Alama, erzählt, dass auch die Lehrer und Lehrerinnen auf diesen besonderen Bau stolz sind. Dadurch habe sich bezüglich Teamdynamik und Zusammenhalt viel geändert. «Wir sind nun verantwortlich, dieses Gebäude mit einem besonderen Lerngeist zu füllen», meint sie.

Es gibt günstigere Schulbauten als die Simba Vision. Der Bau braucht zwar verglichen mit den üblichen eingeschossigen Bauten nur halb so viel Dach­fläche – gerade das Dach ist ein relativ teures Element. Aber auch das Baugerüst kostet viel – und das in einer Gegend, in der so viel Platz vorhanden ist, dass es keinen zwingenden Grund gibt, zweistöckig zu bauen. 

Ein Argument dafür ist der experimentelle Charakter des Baus – er war für manche Handwerker eine Herausforderung. Einer unter ihnen hat mit Hilfe des Bauführers den Sprung vom Einmann-Betrieb zum KMU geschafft. Und vielleicht wachsen die Kinder, die hier zur Schule gehen, mit einem anderen Selbstverständnis und einem anderen Selbstbewusstsein auf. Im besten Fall können sie eines Tages ihre Gesellschaft einen Schritt weiterbringen – in Richtung einer Nachhaltigkeit, die ihren eigenen Wurzeln entspringt.

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