Glas aus der Vo­gel­per­spek­ti­ve

Glasscheiben sorgen zwar für schöne Ausblicke, werden für Vögel aber immer wieder zur tödlichen Falle. Je weiter sich unsere Stadtflächen ­ausdehnen und je vielfältiger unsere Wohnumgebungen werden, umso wichtiger ist es, dass sich die Architektur an die Tierwelt anpasst.

Data di pubblicazione
08-10-2024

Lange Fensterbänder, grossflächige Verglasungen, trans­parente Fassaden – Glas ist ein beliebter und häufig verwendeter Baustoff. Weniger Freude an diesem Baumaterial haben unsere gefiederten Freunde: Man geht davon aus, dass in der Schweiz jährlich mehrere Millionen Vögel durch Kollisionen mit Glas getötet werden. 

Die häufigsten Probleme sind Spiegelungen und Durchsichten, da Vögel in beiden Fällen die Glasscheibe nicht als Hindernis wahrnehmen. Vor allem kleinere Vögel wie Meisen und Spatzen sind es gewohnt, durch dichtes Geäst und kleine Zwischenräume zu manövrieren. Selbst kleine Glasscheiben täuschen ihnen durch die Spiegelung von Bäumen oder Ästen Lebensraum vor, den sie anfliegen können. 

Auch die Transparenz von Scheiben stellt für Vögel eine tödliche Gefahr dar. Solche Situationen entstehen, wenn es vor und hinter einer Glasscheibe gleich hell ist, wie es häufig bei Lärmschutzwänden, Glasbrüstungen oder Unterständen an Haltestellen der Fall ist. Auch für uns Menschen sind Glaswände oft optisch nicht wahrnehmbar, vielmehr sind es Erfahrungswerte, die uns an bestimmten Stellen von Gebäuden oder im Stadtraum mit einer Scheibe rechnen lassen.

Grünraum in Städten lockt Vögel an

Mit dem fortschreitenden Klimawandel und der Erwärmung der Städte gewinnen Grünflächen im urbanen Raum zunehmend an Bedeutung. Sie schaffen eine Verbindung zur Natur und ziehen Vögel an. In der Nähe von naturnahen, begrünten Lebensräumen wird Glas jedoch oft unbedacht eingesetzt – nicht nur für Fenster- und Fassadenflächen, sondern auch für gläserne Zäune, Wartebereiche oder landschaftsgestalterische Elemente. 

Studien haben gezeigt, dass die Vegetation in der unmittelbaren Umgebung von Gebäuden eine entscheidende Rolle spielt. Das Kollisions­risiko für Vögel ist in Bereichen mit Bäumen, die höher als zwei Stockwerke sind, 3.6-mal höher als in baumlosen Umgebungen. Grünflächen in Städten sind wichtig, das steht ausser Frage. Nebst den positiven Auswirkungen auf das Stadtklima fördern sie die Biodiversität im Siedlungsraum. Ohne gleichzeitige Massnahmen gegen Vogelanprall ist die Förderung der Artenvielfalt jedoch kontraproduktiv, weil sie die Vögel in eine Falle lockt.

Der Preis der Naturnähe

Besonders problematisch sind architektonische Konzepte, die flies­sende Übergänge zwischen Wohnraum und Natur herstellen. Wohnhäuser im Grünen oder touristische Bauten wie Wellness- und Hotelanlagen mit einem hohen Anteil an Glasflächen dringen weit in Naturräume vor. Sie heben damit die optische Grenze zur Natur auf, ziehen aber eine umso deutlichere physische Barriere. Auch Bauten in Berg­regionen wie Seilbahn- und Liftstationen mit gläsernen Aussenhüllen oder Aussichtspunkte mit viel Glas für den Panoramablick sind für Vögel gefährliche Strukturen in der Landschaft.

Vordenken statt nachrüsten

Häufig sind verglaste Fassaden, Lärm- oder Windschutzwände als vermeintliche Vogelschutzmassnahme mit Greifvogelsilhouetten beklebt. Allerdings haben diese keine abschreckende Wirkung, da Vögel die Silhouette nicht als potenziellen Feind erkennen. Sie nehmen sie bestenfalls als punktuelles Hindernis wahr und kollidieren oft knapp daneben mit der Glasscheibe.

Übliche Nachrüstmassnahmen für bestehende problematische Glasflächen sind Folien mit aufgedruckten, vollflächigen Mustern. Im Vergleich zu vogelfreundlichen Glasprodukten wie bedrucktem, transluzentem oder strukturiertem Glas müssen diese Nachrüstungen jedoch hin und wieder erneuert werden. Langfristig führen diese Massnahmen zu höheren Kosten als bereits in die Bauplanung integrierte Vogelschutzlösungen. Zudem fallen bei der Verwendung von Folien erhebliche Abfallmengen an. 

Mit vogelfreundlichen Massnahmen planen

Wenn die Glasflächen nur der Belichtung dienen und eine Durchsicht nicht erforderlich ist, eignen sich mattierte und strukturierte Gläser. Diese Glasarten erzeugen keine realistischen Spiegelungen und sorgen im Innern für angenehmes, diffuses Licht ohne harte Schlagschatten. Ein Beispiel dafür ist die grossflächige Glasfassade des Hauptsitzes von Le Monde in Paris, entworfen von Snøhetta (2014–2020). Hier stellt die Glasfläche eine geringe Gefahr für Vögel dar, da die Gläser in Struktur und Transparenz variieren. Sie sind so angeordnet, dass sie Licht in die Büros lassen und an den richtigen Stellen den Blick nach draussen ermöglichen.

Eine weitere Möglichkeit, den Vogelschutz bereits in der Planung zu berücksichtigen, ist das Anbringen von fixen vorgebauten Elementen. Diese Vorbauten können sowohl dekorativ sein als auch dem Sonnenschutz dienen. Das österreichische Architekturbüro gruber locher architekten liess beispielsweise bei der Sanierung und dem Umbau eines alten Wirtschafts­gebäudes in Hittisau, Österreich, (2020) die vertikale Struktur der Holzfassade vor einem langen Fensterband durchlaufen und löste damit gleichzeitig Sonnen- und Vogelschutz.

Mittlerweile gibt es viele gute Beispiele für bauliche Lösungen, die Architektur und Vogelschutz miteinander verbinden. Die Broschüre «Vogelfreundliches Bauen mit Glas und Licht» der Vogelwarte Sempach stellt einige Ideen vor und regt zum Weiterdenken an. Es lohnt sich, schon bei der Planung von Projekten an die Tierwelt an Land und in der Luft zu denken. Dass sich vogelfreundliche Lebensräume im Siedlungsgebiet übrigens nicht nur für die Biodiversität, sondern auch für den Menschen auszahlen, hat die Wissenschaft inzwischen auch ökonomisch nachgewiesen: Vielfältiges Gezwitscher im Wohnumfeld macht ebenso glücklich wie eine Gehaltserhöhung.