Ver­sch­mel­zung von In­nen- und Aus­sen­raum

Filter House, Genf

Im Gegensatz zum All-inclusive-Service anderer Häuser muss sich die Bewohnerschaft des Filter House in Genf aktiv an der Regulierung der Temperatur beteiligen. Seine eigenwillige Nachhaltigkeit basiert auf minimalem Materialeinsatz, gepaart mit einer engen Verbindung zur Natur, deren Schönheit durch die Glasfassade ins Haus gelangt.

Data di pubblicazione
11-10-2024

Obwohl es sich um ein bescheidenes Haus handelt, wurde es in die Liste der Preisträger der fünften Ausgabe der Distinc­tion romande d'architecture (DRA5) aufgenommen. Dieser wichtige Preis, der alle fünf Jahre verliehen wird, vermittelt ein genaues Bild der architektonischen Tendenzen in der Westschweiz. Im Jahr 2023 wurden nur sechs Projekte (unter 17 Nominierten) ausgezeichnet. Die Jury wollte kein «Best of» erstellen, sondern eine Auswahl innovativer, experimenteller Lösungen, die zeigen, wie sich die Architekturschaffenden der Westschweiz angesichts der Veränderungen der Lebensweise und des Klimas positionieren. 

Das Filter House hat die Aufmerksamkeit der Jury auf sich gezogen, weil das Konzept seiner jungen Architekten auch in anderen Projekten oder sogar in grösserem Massstab umgesetzt werden könnte. Es ist ein «Case Study House»: ein Mikroprojekt, das demonstriert, wie mit radikaler Materialeinsparung beeindruckende Ergebnisse erzielt werden können. 

Die ausführliche Version dieses Beitrags mit weiteren Plänen ist erschienen in TEC21 23/2024 «Glasgewand: Transparenz und Behaglichkeit»

Das Haus besteht aus einer einfachen, verschraubten Stahlkonstruktion und zwei Bodenplatten. Es ist isoliert und auf der einen Seite mit einer landwirtschaftlichen Plane umhüllt; auf der anderen Seite ist es völlig offen. Es sieht aus wie ein Glashaus, aber der Architekt Adrien Meuwly korrigiert: «Es ist ein Zelt. Nur ein bisschen komplizierter.» Das Glashaus, dieser jahrzehntelang verfolgte Traum moderner Architekten, wurde in Wirklichkeit nur mit grossem Aufwand an fossiler Energie realisiert. Hier haben die Architekten das Problem umgekehrt: Sie haben «eine Umgebung» entworfen, das heisst die Beziehung zwischen einem Bewohnenden und dem Ort, den er bewohnt – in diesem Fall ein Garten. 

Die Idee besteht darin, alle Elemente zu berücksichtigen, die den Garten ausmachen: den grossen Baum und seinen Schattenwurf, die Pflanzen, das Freiland – und sogar das Verhalten der Bewohnenden. Ein ähnlicher Ansatz wird seit Jahren in Frankreich von den Architekten Lacaton  & Vassal aus Bordeaux (Pritzker-Preis 2021) entwickelt. Aus ihrer Sicht sollten die Bewohnenden nicht als passive Subjekte betrachtet werden, die sich in einem Raum bewegen, der vollständig von entfremdenden, energieintensiven Geräten kontrolliert wird. Im Gegenteil, sie sollten sich aktiv an der Steuerung des Raumklimas beteiligen, auch wenn dies manchmal anspruchsvoll ist. 

Den Garten bewohnen 

Am Rande des Industriegebiets von Vernier erstreckt sich eine Gartenstadt mit kleinen Einfamilienhäusern, die hinter Hecken versteckt sind. Das Filter House ist ein sanftes Verdichtungsprojekt, bei dem ein neues Volumen auf ein Familiengrundstück gesetzt wird, das nun drei Generationen vereint. Die Bauherrschaft lebt buchstäblich in ihrem Garten, der einen Obstgarten und einen Hühnerstall umfasst. Sie kennt jeden Baum, jede Pflanze, ihre Eigenschaften und Bedürfnisse. Die Architekten wollten keine von ihnen opfern und machten einen Deal: Die Pflanzen verlieren etwas Freiland, erhalten aber Flächen zurück, indem sie vertikal an den Fassaden hochklettern und Schatten spenden.

Die Fassaden bestehen aus vier Filtern: innere Vorhänge, um die Privatsphäre zu gewährleisten sowie grosse Glasscheiben und Schattenvorhänge, die auf einer äusseren Schiene gleiten. Der Pflanzenfilter besteht aus einer immergrünen Jungfernrebe (Ampelopsis brevipedunculata) im Süden, einer sommergrünen Waldrebe (Clematis armandii) im Westen, die ab Herbst das Licht des Sonnenuntergangs durchscheinen lässt, und einem Geissblatt im Osten, das im kühlen Schatten der Garage steht. Dieser Slow-Tech-Ansatz erfordert Geduld: Es wird einige Jahre dauern, bis das Grün den First erreicht und sein volles Potenzial entfaltet.

Weitere Beiträge zum Thema Fassade finden Sie in unserem digitalen Dossier.

Das Haus ist ein Raum, der von einer Reihe von «Filtern» begrenzt wird, die die Bewohnenden je nach Bedarf im Laufe der Jahreszeiten oder sogar täglich wechselnd bedienen und anpassen müssen. Das Wohnen im Filter House erfordert also einiges an Arbeit, um die richtige Temperatur zu halten: nachts lüften, querlüften und die Vorhänge während der heissesten Stunden schliessen. Rituale, an die wir uns an heissen Sommertagen mittlerweile gewöhnt haben und die hier Teil des Projekts sind. 

Nach zwei Sommern ist die Temperatur im Inneren des Gebäudes angenehm: Auf dem Höhepunkt der Hitzewelle (38 °C) betrug sie 25 °C, was zum Teil auf die von der Erdwärmesonde gekühlte Bodenplatte zurückzuführen ist, die die Temperatur bei etwa 16 °C hält. In der kalten Jahreszeit speichert sie die Wärme wie eine Batterie. Mit seinen Solarzellen als Dach verbraucht das Haus etwa 2500 W, speist aber 18 000 W ins Netz zurück.

Industrieller Realismus in der Villenzone

Die verwendeten Materialien (Glas, Stahl, Beton) haben einen nicht unerheblichen CO²-Fussabdruck. Den Architekten war es jedoch vor allem wichtig, so wenig wie möglich davon zu verwenden. Jedes Element wurde im Sinne der finanziellen und damit materiellen Einsparung ausgewählt, im Sinne der Leichtigkeit – wie bei einem Zelt. Nachdem die Bodenplatte auf die Punktfundamente gelegt worden war, reichten zwei Tage für die Montage des vorgefertigten Rahmens und ebenso viele für die Fassaden. Die Montage erlaubt eine spätere Umgestaltung oder Wiederverwendung, da jedes Teil wie ein Mechanismus zerlegt werden kann.

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Auch wenn das Haus einer Maschine ähnelt, ist es kein funktionalistisches Werkzeug, das die Art des Wohnens bestimmt. Im Gegenteil, die drei kleinen Plateaus sind frei und offen für verschiedene Anordnungen. Trotz der Forderungen der Bauherrschaft haben die Architekten die Diskussion über die Unterteilung immer ­wieder verschoben. Nach Fertigstellung der Struktur hängten sie einige Vorhänge auf, um die Trennwände zu simulieren, und die Auftraggeber konnten davon überzeugt werden, dass es praktisch keinen Bedarf dafür gab. Teppiche, Lampen, Pflanzen und Möbel reichen aus, um die Bewegungen des Alltags abzubilden.

Viele werden sich über den Stil oder die maschinenartige Ästhetik dieses Hauses wundern, das nicht in den Katalog der Referenzen passt, die wir gewöhnlich mobilisieren, um zu bestimmen, was «schön» ist und was nicht. Und doch fügt sich das Haus in die Industrielandschaft ein, die Realität eines Orts, den die Architekten so akzeptieren, wie er ist, und dessen Qualitäten sie sogar noch steigern wollen. Das Haus öffnet sich zunächst zu einem Garten und dann zu den Masten und Fahrleitungen der SBB-Gleise, die es säumen. Inmitten dieses von malerischen Häusern und Chalets bevölkerten Villenviertels bietet das frugale Zelt einen anderen Entwurf des Wohnens: lässig, frei und komfortabel.

Aus dem Französischen übersetzt von Isabel Borner.

Filter House, Genf
 

Architektur
Comte / Meuwly Architectes, Zürich 

Bauherrschaft
privat 

Metallbau
Les Métalliers, Cressier

Heizung
Multi + Therme, Carouge

Sanitärplanung
Maulini & Prini, Lancy 

Elektroplanung
Pôle Electricité, Le Lignon 

Gerüstbau
Echami, Vernier

Fertigstellung
2022

Geschossfläche
50 m2

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