Ein­tau­chen in den Ur­wald

Das Artstübli - Kunst & Kultur Basel widmet dem Wald eine Ausstellung. Die Künstlerin und Biologin Nadine Cueni präsentiert eine multimediale Rauminstallation. Für den virtuellen Spaziergang durch einen digitalen Waldtempel verwendete sie Bilder vom Wald Scatlè bei Brigels GR, einem der letzten Urwälder der Schweiz. 

Data di pubblicazione
13-11-2024

Vom Dorf Breil/Brigels GR ist es nur eine knappe Stunde zu Fuss dem rauschenden Bach Flem entlang Richtung Val Frisal. An der steilen Bergflanke auf der linken Talseite befindet sich ein Waldstück, das auf den ersten Blick überhaupt nicht auffällt. Erst wenn man diesen Wald betritt, entpuppt sich der Fichtenwald als eine grosse Rarität. Der Uaul dil Scatlè, wie der Wald heisst, ist nämlich einer der letzten Fichtenurwälder der Alpen. 

Das erste Waldreservat der Schweiz

Ein Teil des Waldstücks ist bereits 1910 unter Schutz gestellt worden. Es ist damit das älteste Waldreservat der Schweiz. Die Unterschutzstellung ging auf die Initiative von Förstern des Schweizerischen Forstvereins zurück. Schon bald aber übernahm der kurz zuvor entstandene Schweizerische Bund für Naturschutz (heute Pro Natura) die Verpflichtungen, die mit dem Reservat einhergingen. Nur wenig später, im Jahr 1914, gelang mit der Gründung des Schweizerischen Nationalparks im Unterengadin ein grosser Wurf. Anfänglich war das Waldreservat von Scatlè rund 5 ha gross. 1964 wurde es auf etwas mehr als 9 ha vergrössert und im Jahr 2000 auf 24 ha erweitert.   

Seiner Unzugänglichkeit wegen wurde der Wald von Scatlè nie forstwirtschaftlich genutzt. Auch Köhlerei fand hier nicht statt. Sich in diesem Wald zu bewegen, ist nicht nur mühsam, sondern auch gefährlich. Das Gelände ist steil und stark zerklüftet. Die zahlreichen Steinblöcke zeugen von einem nacheiszeitlichen Felssturz. «Scatlè» lässt sich denn auch mit «eingeschachtelt» übersetzen.

Inspiration für die Kunst

Dieser Urwald inspirierte die Künstlerin und Biologin Nadine Cueni. Im Artstübli – Kunst & Kultur Basel ist derzeit ihre multimediale Rauminstallation «Climax – oh temple growing green» zu sehen. Die Videoproduktion ist in Zusammenarbeit mit Marco Papiro (Musik), Robin Michel (3D-Umsetzung) und Simon Wyss (Produktions- und Filmassistenz) entstanden. Die Ausstellung erforscht die Beziehung zwischen der digitalen postnatürlichen Umwelt und dem archaischen Urwald.

In den Raum mit dem Video gelangt man durch versetzte, leicht transparente raumhohe Baumbilder mit uralten, von Wetter und Sturm gezeichneten Bäumen. Beim Eintreten wird man sogleich in Bann gezogen, spürt die Kraft der Bilder und wähnt sich in einem grünen Tempel. Dabei treffen Natur und Artefakte aufeinander, verschmelzen und erzeugen doch eine Spannung. Am Schluss des Videos schweift der Blick durch eine kreisrunde Öffnung im Gewölbe zum Himmel. Im geschlossenen Wald ist der Horizont nur selten zu sehen. Manchmal aber erblickt man den Himmel durch eine Lücke im Kronendach.

Sukzession und Klimax

Eine weitere Installation mit grossformatigen Waldbildern, die von Baugerüsten umrahmt sind, zeigt den Urwald als permanente Baustelle von Auf-, Ab- und Umbau. Nadine Cueni interessieren auch Sukzession und Klimax. Unter Sukzession wird die natürliche Entwicklung eines Ökosystems verstanden, die sich ohne menschliche Nutzung ergibt. Klimax ist in der Ökologie ein reifer Zustand, sozusagen der Höhepunkt oder Schlusspunkt einer Entwicklung. In Scatlè zeigt sich das am Umstand, dass die Fichten ihr natürliches Alter erreichen. Einige Bäume sind über 400 Jahre alt.

Doch der Wald von Scatlè verändert sich kontinuierlich. 1984 riss eine Lawine eine Schneise in den Wald. Daraufhin wurden einige Fichten vom Borkenkäfer befallen. Im Oktober 2008 schneite es so stark, dass mehrere Fichten umgeknickt wurden. Zu einem grossflächigen Absterben der Bäume, verursacht etwa durch einen gewaltigen Sturm oder einen grossen Waldbrand, kam es in den letzten Jahrzehnten jedoch nicht.

Naturwaldforschung in der Schweiz

Pollenanalysen ergaben, dass bis ins 13. Jahrhundert keinerlei Spuren einer forstlichen Nutzung im Wald von Scatlè erkennbar sind. Dies war wohl der entscheidende Faktor, weshalb das Institut für Waldbau der ETH Zürich 1965 dort mit der Erhebung von Daten zur Waldentwicklung begann. In 39 weiteren Schweizer Naturwaldreservaten, in denen seit mehr oder weniger langer Zeit keine forstliche Nutzung stattgefunden hatte, wurden solche Erhebungen gemacht, um mehr über die natürliche Walddynamik zu erfahren. Davon konnten unter anderem wertvolle Erkenntnisse für die Pflege bewirtschafteter Wälder abgeleitet werden.

Vor rund 15 Jahren wurde die Forschung in Naturwaldreservaten in der Schweiz auf eine neue Basis gestellt. Einige neue Wälder kamen hinzu und ergänzen das ursprüngliche Netzwerk, sodass heute 49 Reservate beobachtet werden. Die Federführung liegt nun bei der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL. In Scatlè fand die letzte Erhebung 2018 statt, die nächste ist für 2028 geplant. Harald Bugmann von der ETH Zürich wird im Rahmen der Ausstellung am 21. November 2024 über die Erkenntnisse aus der Schweizer Waldreservatsforschung mit speziellem Fokus auf Scatlè berichten.

Informationen zur Ausstellung:

Die Ausstellung ist noch bis am 21. Dezember 2024 zu sehen. Das Artstübli befindet sich am Steinentorberg 28 in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs SBB in Basel.  

www.artstuebli.ch

 

Veranstaltungshinweis:

Am 21. November 2024 um 18 Uhr wird Harald Bugmann von der ETH Zürich im Artstübli einen Vortrag halten. Er wird die Dynamik unbewirtschafteter Wälder und deren Entwicklung hin zu «Urwald» erörtern und die einzigartigen Daten vorstellen, die seit 1965 in Scatlè gesammelt wurden. Der Vortrag wird auch die Bedeutung dieser Daten für das Verständnis der Walddynamik beleuchten.

 

Zur Anmeldung gehts hier.

Literatur
Peter Brang, Caroline Heiri, Harald Bugmann: Waldreservate – 50 Jahre natürliche Waldentwicklung in der Schweiz. Haupt, 2011. (Kapitel 6.11: Der Urwald von Scatlè)

 

Waldreservatsforschung Schweiz:
www.waldreservate.ch