«Ei­ne Chan­ce, un­se­re Stan­dards zu he­ben»

Interview mit Dietmar Eberle, Leiter ETH Wohnforum – ETH Case

Die Menschen werden immer mobiler, aber auch immer älter. Was heisst das für die Stadtplanung und die Architektur? Dietmar Eberle, Veranstalter des ETH Forums Wohnungsbau 2014, sucht nach Antworten.

Data di pubblicazione
20-03-2014
Revision
18-10-2015

Das diesjährige ETH Forum Wohnungsbau findet am 25. April im Kongresshaus in Zürich statt. Die Tagung ist dem doppelten Thema «Wohnen im Alter und Migration» gewidmet. Eine unübliche Kombination. TEC21 hat nachgefragt, wie es dazu kam.

TEC21: Herr Eberle, was haben Wohnen im Alter und Migration miteinander zu tun?
Dietmar Eberle: Beide sind gesellschaftlich relevante Phänomene, die unser Denken über den Wohnbau prägen werden. Erstens stellen wir seit Jahrzehnten eine demografische Veränderung fest: Es gibt immer mehr alte Menschen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung – nicht nur in Europa, sondern auch in Asien und in den USA. Zweitens ist ein guter Teil der Bevölkerung in ständiger Bewegung: Sie emigriert, immigriert, pendelt, benutzt Zweitwohnsitze, arbeitet als Wochenaufenthalter etc. Das bedeutet auch, dass sehr viele Menschen multilokal, also an mehreren Orten leben. Wir haben in einer aktuellen Studie erstmals konkrete Zahlen für die Schweiz erhoben: Rund 28% der Wohnbevölkerung nutzen mindestens einen zusätzlichen Wohnsitz, darunter überraschend viele Senioren.

Wie hängen die zwei Tendenzen zusammen?
Eberle: Bei der Tagung interessieren uns ihre Schnittmengen und Besonderheiten: Welche Anforderungen an das Wohnen sind gemeinsam? Wo liegen die grossen Unterschiede? Gesellschaftliche Transformationsprozesse haben den Wohnbau immer verändert. Im 20. Jahrhundert war unsere Denkweise stark von der Kernfamilie geprägt und von der Vorstellung, dass das Wohnen etwas Stationäres sei. Doch heute bewegen wir uns mehr als vor 100 Jahren, und in vielen Städten macht die Kernfamilie nur noch einen kleinen Teil der Haushalte aus: in Zürich rund 20%, in Stockholm gerade einmal 10%.

Selbst multilokale Senioren kommen in eine Lebensphase, in der ihre Mobilität eingeschränkt ist. Dann sind sie auf ein Wohnumfeld angewiesen, das kurze und sichere Wege, eine gute Infrastruktur, Hindernisfreiheit, Anbindung an den öffentlichen Verkehr etc. bietet. Man spricht von altersgerechtem Wohnen. Doch wie spezifisch sind diese Anforderungen? Auch Kinderwagen, Einkaufstaschen und Sportverletzungen schränken die Mobilität ein. Von den genannten Vorteilen würden auch andere profitieren. 
Eberle: Natürlich. Aber es gibt auch Unterschiede. Familien sind zum Beispiel besonders stark auf Freiräume und Grünzonen angewiesen, Senioren auf eine dichte und teilweise spezifische Infrastruktur. Im 20. Jahrhundert hatten Städtebauer und Architekten die Kernfamilie als Modell des  Zusammenlebens vor Augen, und entsprechend haben sie den Raum gestaltet. In Zukunft werden sie sich an den Bedürfnissen von alten, in ihrer Mobilität eingeschränkten Menschen orientieren. Sie werden deren hohe Anforderungen an die Behaglichkeit als Standards in ihre Planungen integrieren. Wir müssen aus den Bedürfnissen alter Menschen lernen – auch wenn die Phase, in der ihre Mobilität stark eingeschränkt ist, heute oft spät eintritt und vergleichsweise kurz ist. 

Bauen für die Zukunft heisst also, für Senioren zu bauen?
Eberle: Nicht nur. Das Nachdenken über die eingeschränkte Mobilität ist eine Chance, unsere Standards zu verbessern. Wir sollten dankbar sein, dass uns die demografische Veränderung mit neuen Fragen konfrontiert. Natürlich werden wir zusätzliche technische Infrastrukturen benötigen. Die Schlüsselrolle spielt aber für alle das Wohnumfeld. Um das benötigte feinmaschige Netz an Infrastruktur ökonomisch zu ermöglichen, müssen wir die Grundstücke besser ausnutzen. Jenseits der quantitativen Aspekte stellt sich die Frage nach der Qualität dieser Verdichtung: Welche Eigenschaften suchen wir in unserem Wohnumfeld  Bestimmte Vorteile können wir nur mit Mitteln erreichen, die die Moderne im 20. Jahrhundert abgelehnt hat, zum Beispiel die Durchmischung von Nutzungen.

Das zweite Thema der Tagung, die Multilokalität, umfasst diverse Wanderungsbewegungen der Bevölkerung, auch die Immigration. Vor der Abstimmung vom 9. Februar 2014 wurde behauptet, die Immigration führe zu einer Verknappung des Wohnraums. Was halten Sie davon?
Eberle: Diese Behauptung lässt sich statistisch nicht nachweisen. Wie hoch die Flächennachfrage pro Person ist, korreliert ausschliesslich mit den wirtschaftlich-konjunkturellen Erwartungen. In Deutschland war man 1980 der Meinung, es gäbe eine Million Wohnungen zu viel; 1990 fand man, es seien eine Million zu wenig – bei gleicher Bevölkerungszahl. Der einzige Unterschied war die konjunkturelle Erwartungshaltung vor bzw. nach der Wende. Der Flächenbedarf resultiert nicht aus objektiv feststellbaren Daten, sondern aus der Stimmung der Menschen, die bestimmte Bedürfnisse als erfüllbar erscheinen lässt oder eben nicht. 

Was heisst das konkret?
Eberle: Die Nachfrage der Immigranten nach Wohnraum macht nur einen sehr kleinen Teil der gesamten Nachfrage aus. Ein Beispiel: 1910 lebten im Kanton Zürich 504.000 Menschen, 2010 waren es 1.371.000. In 100 Jahren ist die Bevölkerung also um den Faktor 2.7 gewachsen. In der gleichen Zeit ist der durchschnittliche Wohnflächenverbrauch pro Person von 8m2 auf 45m2 gestiegen, also um fast Faktor 6! Das heisst: Der wirklich wirksame Treiber für den gestiegenen Wohnraumbedarf sind unsere immer höheren Ansprüche, weniger die Bevölkerungszahl – und erst recht nicht die Migration, die im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung statistisch kaum ins Gewicht fällt. Die Zufriedenheit oder Unzufriedenheit der Menschen hat weniger mit dem tatsächlichen Wohnungsangebot zu tun als damit, ob ihre Erwartungen eingelöst werden oder nicht. In der Schweiz sind die Erwartungen sehr hoch. Das ist positiv, denn es zeigt, dass es uns gut geht und dass wir es uns leisten können, über eine bessere Wohnqualität nachzudenken.

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