Land­schaft, hin­der­ni­sfrei

Mobilitätsnetze von Mensch und Tier

Verkehrsträger und Siedlungsflächen zerschneiden den Lebensraum von Wildtieren und wirken als Barrieren. Die Schweiz war in Mitteleuropa eine der führenden Nationen bei der Planung und Umsetzung von Wildtierkorridoren. Der Elan scheint aber nachzulassen.

Data di pubblicazione
18-06-2014
Revision
18-10-2015

Wild lebende Grosssäuger wie Wildschweine, Rehe oder Rothirsche finden in Mitteleuropa zwar noch geeignete Lebensräume. Doch Strassen, Bahnlinien, künstliche Kanäle, Siedlungen, Wildschutzzäune, Lärmschutzwände oder intensive landwirtschaftliche Produktionsflächen machen ihnen das Leben schwer. Für Wildtiere ist es überlebenswichtig, verschiedene Landschaftsräume zu erreichen, denn sie wechseln mehrmals täglich ihren Standort: vom Wald, der Deckung bietet, zum Offenland, wo sie Nahrung finden. Im Urnerland beispielsweise ist speziell das schwierig geworden: Hier verläuft die Autobahn direkt am Hangfuss, und die Tiere können nicht auf offene Flächen hinaustreten.

Im Lauf des Jahres bewegen sich die Tiere zu Fortpflanzungsplätzen und wechseln zwischen den Sommerlebensräumen in den Hochlagen zu ihren Winterlebensräumen in den Tieflagen. In diesem Zusammenhang ist auch der Begriff «minimale überlebensfähige Population» wichtig. Bei höher entwickelten Tieren besteht erst ab mindestens 500 Individuen langfristig eine Überlebenschance. Für Arten mit grossem Raumanspruch wird diese Zahl erst im Verbund mit benachbarten Populationen erreicht. Unterbleibt der Austausch zwischen den Populationen, kann es zu Inzucht und genetischer Verarmung kommen und damit zur Gefährdung von Tierbeständen. 

In der Schweiz bestehen rund 26% der Nationalstrassen aus künstlichen Bauten wie Brücken, Galerien und Tunnels. Obwohl viele dieser Strukturen von Wildtieren nicht genutzt werden, könnten sie durch ökologische Aufwertungsmassnahmen wie Heckenstrukturen in der Umgebung oder kleine bauliche Anpassungen attraktiver gemacht werden. «Rehe und Rothirsche können durchaus Anlagen für Menschen mitbenutzen», sagt Wildtierbiologe Antonio Righetti, Projektleiter B + S AG, Bern. «Wir haben zum Beispiel im Kanton Freiburg festgestellt, dass lokal ansässige Rehe eine gut mit der Umgebung vernetzte Überführung benutzt haben, sobald sie nicht mehr von Menschen gestört wurden.» Solche Phänomene seien auch in den Kantonen Thurgau und St. Gallen beobachtet worden.

«Ein asphaltiertes Trottoir auf einer Überführung, das vor und nach der Brücke sowieso nicht weitergeführt wird, kann beispielsweise durch eine Mergelspur oder einen begrünten Streifen ersetzt werden», so Righetti. «Diese Materialien begehen die Tiere lieber – besonders auch kleinere Tierarten.» Bei Gewässerdurchlässen reiche es, sie so zu gestalten, dass seitlich genug Platz bleibt. Der Schweizerische Verband der Strassen- und Verkehrsfachleute (VSS) hat hierzu eine Norm verfasst (SN 640696). So können aus unüberwindbaren Barrieren teilweise passierbare Bauwerke werden. Wo das nicht genügt, braucht es bauliche Massnahmen, die es den Tieren erlauben, einen Verkehrsweg möglichst sicher und ungestört zu überwinden. Doch wo müssen diese Wildtierpassagen gebaut werden? Wo reicht eine Unterführung, wo braucht es eine Überführung? Sind Stellen prädestiniert, an denen sich häufig Wildunfälle ereignen (vgl. Tabelle)  Wie sieht das übergeordnete Netz aus, auf dem sich die Wildtiere bewegen? Rothirsche und Co. halten sich über Generationen an ihre festen Routen. 

Nur 16% der Wildtierkorridore intakt

Mitte der 1980er-Jahre wollte es das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) genauer wissen: Es beauftragte das Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft (Buwal; heute Bundesamt für Umwelt [Bafu]) und das Bundesamt für Strassen (Astra), eine Richtlinie über die Planung und den Bau von Wildtierpassagen an Verkehrswegen1 zu erarbeiten. Diese trat im November 2001 in Kraft, gilt für das schweizerische National- und Hauptstrassennetz und regelt hauptsächlich die Abmessungen für Wildtierüberführungen. Bestandteil dieser Richtlinie sind auch zwei weitere Berichte2, 3, die zeigen, wo sich die Engpässe für Wildtiere und die Wildtierkorridore befinden, in welchem Zustand sie sind und welche wiederhergestellt werden müssen, um die Situation für die Wildtiere zu verbessern.

Zum anderen legen sie fest, wo am sinnvollsten neue Wildtierpassagen errichtet und wie sie ausgestaltet werden sollen, um von den Tieren akzeptiert zu werden. In der Schweiz gibt es 303 überregional bedeutende Wildtierkorridore (Stand 2012; vgl. Karte). Nur noch etwa ein Viertel ist aber ungehindert benutzbar. Mehr als die Hälfte ist in ihrer Funktionalität erheblich beeinträchtigt und der Rest sogar vollständig unterbrochen. Die meisten der beeinträchtigten Korridore liegen im Mittelland. Eine neue Erhebung zehn Jahre nach der ersten zeigt, dass sich der Zustand der Korridore insgesamt nicht verbessert hat4 (vgl. Grafik).

Insgesamt wurden 78 überregionale Korridore ausgeschieden, bei denen die Funktionstüchtigkeit nur durch grosse wildtierspezifische Bauwerke erreicht werden kann. Zieht man alle Korridore ab, bei denen sich die Funktionsfähigkeit durch eine wildtierspezifische Gestaltung bestehender Flussdurchlässe oder Autobahnviadukte wiederherstellen lässt, bleiben 51 Korridore.5 Diese mit Grünbrücken zu versehen ist technisch problemlos möglich, aber mit hohen Kosten verbunden und kommt nur schleppend voran. Bei Neu- und Ausbauten von Verkehrsträgern ist es heute Standard, dass Wildquerungen vom Bund verfügt werden, bei bestehenden Verkehrsträgern wird oft gewartet, bis ein Abschnitt saniert oder ausgebaut wird. 

Querungshilfen für Wildtiere

«Für grosse Säuger ist die Wirksamkeit einer Grünbrücke vor allem von der Lage und Breite, weniger von der perfekten Detailgestaltung des Bauwerks abhängig», sagt Antonio Righetti. Jede Tierart, sogar jedes Individuum reagiert auf Querungshilfen unterschiedlich. Alle Arten gleichermassen zu berücksichtigen ist nicht möglich. Deshalb werden Zielarten definiert. Unter den Grosssäugern ist der sensible und vorsichtige Rothirsch hinsichtlich Abmessung und Störung am empfindlichsten und stellt die höchsten Ansprüche an eine Querungshilfe. Bei einer Standard-Wildtierüberführung geht man von rund 45 Metern Breite aus. Die Abmessungen von Wildtierunterführungen sind noch nicht standardisiert. Dazu läuft derzeit ein Forschungsprojekt des VSS. Die Ergebnisse mit Vorgaben für regionale und überregionale Korridore sollen 2015 vorliegen.

Grundsätzlich gilt: Grosssäuger ziehen es vor, einen Verkehrsträger zu überqueren; ist eine Unterführung grosszügig gestaltet, nehmen sie auch diese an. Die erforderliche Dichte der Wildtierpassagen hängt von der Fragmentierung der betroffenen Landschaft ab und vor allem davon, ob es überhaupt Wechselmöglichkeiten gibt. Anders als etwa in Österreich – dort wird alle paar Kilometer ein Bauwerk erstellt – geht man in der Schweiz von vorhandenen bzw. wiederherzustellenden ehemaligen Verbindungen aus. Zwischen Dättwil und Birmensdorf AG beispielsweise trennen die Autobahn A1 und der angrenzende Autobahnzubringer der Kantonsstrasse zwei grössere Waldgebiete. Die Kantonsstrasse wird von einer Wildtierbrücke überspannt, und durch eine Unterführung unter der Autobahn können die Tiere sicher die Seiten wechseln.

Nach der Fertigstellung 2004 wurde die Akzeptanz überwacht, um sicherzustellen, dass die Bauwerke ihren Zweck der Vernetzung auch erfüllen. Nach der Wiederholung der Kontrollen im vergangenen Jahr konnte nachgewiesen werden, dass viele Wildtiere die «Angebote» nutzen. Erhebungen an anderen Wildtierbrücken im Schweizer Netz sind ebenfalls Erfolg versprechend. Wenn die Wirkungskontrollen von Vernetzungselementen konsequent umgesetzt werden, kann das Argument, die Tiere benutzten die Passagen nicht, widerlegt werden. Die Frage nach der Verhältnismässigkeit bleibt trotzdem (vgl. TEC21 43/2013, S. 34).

Passagen allein reichen nicht

Nimmt der Flächendruck im heutigen Ausmass weiter zu, wird es für die Tiere allerdings immer schwieriger, ihre Übergänge überhaupt zu erreichen. Neben den Querungshilfen braucht es für eine funktionierende grüne Infrastruktur daher auch ein engmaschiges Netz aus qualitativ hochwertigen Schutzgebieten, punktuellen Trittsteinen, linearen und flächigen Vernetzungselementen. 

Die nationalen und internationalen Rechtsgrundlagen verpflichten den Bund und die Kantone, die Lebensräume von Fauna und Flora besser zu vernetzen. Vor einigen Jahren war die Schweiz bei der Planung und Umsetzung von Korridoren, vor allem mit dem Projekt REN (Réseau écologique national), sehr fortschrittlich. Die geeigneten Zonen für die Entwicklung eines nationalen ökologischen Netzwerks wurden darin erarbeitet und 2004 veröffentlicht. Es zeigt bestehende und potenzielle Vernetzungen der Lebensräume von Flora und Fauna in der Schweiz und deren Zerschneidungen. Das Bafu erarbeitet das REN zusammen mit den Kantonen. Es dient als ökologische Richtschnur bei Planungen in Land-, Wald- und Wasserwirtschaft, Fischerei, Jagd, Strassenbau sowie Natur- und Landschaftsschutz. 

Die Wildtierkorridore bilden einen Teil dieses Netzwerks. Das Projekt eines nationalen ökologischen Netzwerks (REN) ging auf die 1995 von den europäischen Umweltministern beschlossene paneuropäische Strategie zur Förderung der Biodiversität zurück. Es ist zugleich eines der Hauptziele für das Landschaftskonzept Schweiz und wurde in das Konzept Landschaft 2020 integriert. «War die Schweiz vor 10, 20 Jahren in Sachen Vernetzung und Widtierpassagen führend, hat in jüngster Vergangenheit das Ausland auf- und unser Land teilweise überholt. Aktuell ist in anderen Ländern ein regeres Treiben zu beobachten», meint Righetti – in Polen, Deutschland und Frankreich zum Beispiel. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die EU-Richtlinien sehr streng sind, was den Artenschutz angeht (vgl. Kasten).

Was in der Schweiz noch fehlt, ist ein Konzept, damit die Raumplanung für die grüne Infrastruktur neben den anderen Raumansprüchen bestehen kann. Im Aktionsplan Biodiversität ist eine Massnahme für eine Minimierung der Trennwirkung des Verkehrs vorgesehen. Er ist allerdings noch nicht verabschiedet. Der Entwurf wird derzeit vom Bafu überarbeitet; es ist vorgesehen, dass der Bundesrat im Frühjahr 2015 darüber befinden könnte. Diese Massnahme fordert eine Erweiterung und Beschleunigung der Sanierung. Damit komme auch wieder Schwung in die Sache der Wildtierkorridore, ist Righetti überzeugt. 

Adrien Zeender, beim Bafu zuständig für die Wildtierkorridore, ist ebenfalls der Ansicht, dass dieser Schwung unbedingt notwendig ist. Als positiv sieht er, dass die Bedürfnisse – auch in Gerichtsentscheiden – anerkannt werden, einige Wildtierkorridore saniert wurden und Korridore in Planungsinstrumenten wie den kantonalen Richtplänen (vgl. «Das Bewusstsein ist hoch») berücksichtigt werden. Aber er merkt auch an, dass dieser positive Trend durch eine Verschlechterung der Situation bei anderen Wildtierkorridoren egalisiert wird. Die geplante Sanierung der Nationalstrassen finde langsamer statt als noch 2003 geplant, die Gemeinden berücksichtigten die Wildtierkorridore in ihrer Nutzungsplänen noch viel zu wenig, was zu Konflikten führe. Mit der generellen Zunahme des Verkehrs nimmt die Durchlässigkeit der Korridore auch entsprechend ab. Um die Situation zu verbessern, braucht es vor allem mehr Konkretes. «Schlussendlich brauchen die Tiere Massnahmen und nicht nur Intentionen», sagt Zeender.

Künftig könnte sich die Lage sogar noch zuspitzen. Durch Veränderungen im Klima und im Wasserregime werden sich auch die Lebensräume verändern. Wildtiere müssen ihren Standort ändern und in Gebiete mit besseren Bedingungen ziehen können.

Die Biodiversität in Europa erhalten
Ziel der europäischen Länder ist die Sicherung der Artenvielfalt durch die Erhaltung der natürlichen Lebensräume und der wild lebenden Tiere und Pflanzen. Festgelegt ist dies in der Fauna-Flora-Habitatrichtlinie der Europäischen Gemeinschaft. Sie ist seit dem 5. Juni 1992 in Kraft und bildet die Grundlage für den Aufbau des europäischen Schutzgebietssystems «Natura 2000». 
Über 82% des EU-Gebiets befinden sich ausserhalb von Schutzgebieten wie Natura-2000-Gebieten. Viele nicht rechtlich geschützte Flächen haben dennoch eine hohe Bedeutung als Lebensraum für die Erhaltung der biologischen Vielfalt. Deren Schutz soll durch die europäische Strategie zur Grünen Infrastruktur und die «No Net Loss»-Initiative (NNL) wirksam unterstützt werden. So sieht die Strategie zur Grünen Infrastruktur Massnahmen vor, mit denen wichtige Verbindungsräume zwischen den Kernflächen des Naturschutzes geschaffen werden, wie die Wiederherstellung von Trittsteinen oder den Bau von Querungshilfen. In der NNL-Initiative geht es darum, bis 2015 Instrumente zu entwickeln, mit denen auch Gebiete ausserhalb von Natura-2000-Gebieten in der stark genutzten Landschaft Europas für die biologische Vielfalt erhalten werden können.7 

Anmerkungen
1 Uvek: Richtlinie «Planung und Bau von Wildtierpassagen an Verkehrswegen», 11.11. 2001
2 Uvek: Grundlagenbericht für die Richtlinie «Planung und Bau von Wildtierpassagen an Verkehrswegen», 11.11. 2001
3 Schweizerische Gesellschaft für Wildtierbiologie (SGW), Schweizerische Vogelwarte, Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft (Buwal), Schriftenreihe Umwelt Nr. 326: Korridore für Wildtiere in der Schweiz, 2001, S. 23–25
4 Adrien Zeender, Bundesamt für Umwelt: Infrastrukturpolitik Verkehr, Wildtierkorridore; Referat beim Eco-Naturkongress, Workshop «Freie Fahrt für Wildtiere – Wie die Schweiz zu mehr Wildtierkorridoren kommt», 21.2. 2014
5 Bundesamt für Umwelt: Zerschneidung von Lebensräumen durch Verkehrsinfrastrukturen COST 341, Umwelt-Wissen, 2., aktualisierte Auflage 2007
6 Bundesamt für Umwelt: Eidgenössische Jagdstatistik, 21.5. 2014
7 Bundesamt für Naturschutz, 27.5. 2014
 


Literatur
– Heike Leitschuh-Fecht, Peter Holm (Hrsg.): Lebensräume schaffen. Artenschutz im Verkehrsnetz. Bern 2007.
– Akademie für Natur- und Umweltschutz Baden-Württemberg (Hrsg.): Ein Brückenschlag für Wildtiere. Querungshilfen über Verkehrswege: Auswege für wandernde Tierarten. Bd. 30, Stuttgart 2001.
– Bundesamt für Strassen (Astra): Richtlinie Querungshilfe für Wildtiere. Bern 2014.
– www.bafu.admin.ch 


 

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